Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
den Kopf, ging in die Hocke und berührte leicht mit der Hand die Stelle im Moos, wo er die Abdrücke entdeckt hatte. Er schloss die Augen, um sich ganz auf seinen Tastsinn zu konzentrieren. » Es könnte allenfalls ein Waldriesenkind gewesen sein, aber die tragen keine Stiefel«, sagte er. » Nein, es war ein Ork, der hier entlanggelaufen ist.« Er öffnete wieder die Augen und erhob sich, dann lauschte er angestrengt und ließ dabei den Blick suchend schweifen.
» Wollen wir hoffen, dass es nur ein Einzelgänger war«, flüsterte Zalea.
Lirandil nickte leicht. » Ja«, murmelte er, » das wollen wir hoffen…«
» Könnt Ihr auch sagen, wie lange es her ist, dass dieser Ork hier entlanggegangen ist?«, fragte Arvan.
» Zwei Tage«, antwortete Lirandil. » Vielleicht war es wirklich nur ein einzelner Kundschafter.«
Der Waldriese
Die meiste Zeit über gingen sie nun schweigend den Uferpfad entlang. Am frühen Nachmittag erreichten sie schließlich die Anlegestelle von Zobo dem Bedachtsamen.
Wer nicht wusste, wo sie sich befand, ging glatt an ihr vorbei, ohne auch nur zu bemerken, dass hier eine ganze Sippe aus dem Stamm von Brado dem Flüchter lebte.
Die Anlegestelle und die Wohnräume, Bootswerften und Werkstätten von Zobo und seiner Sippe befanden sich in der Wurzelhöhle eines knorrigen Riesenbaums auf der dem See zugewandten Seite. Dieser Baum war zwar nicht ganz so hoch wie manch anderer seiner Art, hatte dafür aber mindestens den dreifachen Durchmesser. Der Blitz war im Laufe der Zeit immer wieder eingeschlagen und hatte ihn mehrfach gespalten, wodurch er nicht so hoch gewachsen war. Dafür reichte sein Wurzelwerk weit in den See, dessen Wasserspiegel in den Zeitaltern immer wieder schwankte. Nun war er so angestiegen, dass der Baum etwa zur Hälfte im Wasser stand. Seine gewaltigen Wurzeln wirkten wie natürlich gewachsene Landungsstege oder Wellenbrecher.
Lirandil überkletterte die Wurzelstränge, die sich am Ufer aus der Erde erhoben, Arvan und die Halblinge folgten ihm.
» Seltsam, dass man von Zobo und seinen Leuten nichts hört«, meinte Arvan.
» Sie werden vorsichtig sein«, sagte Zalea leise. » Denkt an die Orkspur, die Lirandil entdeckt hat.«
Ein schmaler und kaum als solcher erkennbarer Pfad führte am Wasser entlang. Über ihn gelangten sie in die vom Land aus vollkommen verborgene Wurzelhöhle, die einer Grotte ähnelte. Licht fiel durch die dem See zugewandte Bootsausfahrt in das Innere. Außerdem gab es mehrere Lichtlöcher, die an ganz bestimmten Stellen in das Wurzelholz gebohrt worden waren. Die Boote waren fest vertäut. Aber schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass hier etwas nicht stimmte.
Denn ein toter Halbling trieb im Wasser, mit dem Gesicht nach unten. Eine Wunde klaffte an seinem Hinterkopf, wie sie von den Wurfäxten der Orks verursacht wurden und Arvan sie inzwischen mehrfach gesehen hatte.
Er zog Beschützer und umfasste den Griff der Waffe grimmig mit beiden Händen.
» Ich fürchte, wir kommen zu spät«, flüsterte Neldo.
In einem der Boote lag ein weiterer toter Halbling. Arvan erschrak. » Das ist Wybo«, entfuhr es ihm.
Wybo war einer der Söhne des bedachtsamen Zobo und ungefähr in Arvans Alter. Allerdings war es Jahre her, dass Arvan ihn zuletzt gesehen hatte. Das war gewesen, als Wybos Vater Gomlos Baum einen seiner seltenen Besuche abgestattet hatte, bei dem er seinen Sohn mitgenommen hatte. Wybo lag ausgestreckt und mit weit aufgerissenen starren Augen im Boot. Dort, wo die rechte Hand hätte sein sollen, war nur noch ein Stumpf.
Die Hand fand sich im hinteren Teil des Bootes und umklammerte noch immer den Griff des Langmessers, mit dem Wybo wohl verzweifelt versucht hatte, sich gegen den oder die Angreifer zu wehren. Vergeblich. Ein Wurfdolch steckte in seiner Brust.
Bilder stiegen in Arvan auf. Er dachte an eine Bootsfahrt, die er zusammen mit Gomlo auf Zobos Boot unternommen hatte. Da war Arvan noch ein kleiner Junge gewesen, und das Erlebnis gehörte zu seinen ersten Erinnerungen. Gomlo und Zobo hatten sich gestenreich unterhalten, und Arvan hatte kaum begriffen, worum es eigentlich gegangen war. Aber das Faltenmuster, das sich jedes Mal auf der Stirn von Zobo dem Bedachtsamen gebildet hatte, wenn dieser Gomlos Worten interessiert lauschte, war für den kleinen Jungen höchst interessant gewesen.
Arvan stieß die Tür auf, die in die eigentlichen Wohn- und Lagerräume der Baumhöhle führte.
» Warte!«, rief Lirandil.
Aber Arvan
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