Der Sommer, als ich schön wurde
musst jemand anderen wählen.« Das stimmte, so war die Regel.
»Hast du etwa Schiss, Tay-Tay? Nur Mut!«
Taylor zögerte. »Na gut, Wahrheit.«
Steven grinste hinterhältig. »Wen in diesem Zimmer würdest du küssen?«
Taylor dachte kurz nach, dann machte sie eine Miene wie eine Katze, die soeben den Kanarienvogel verspeist hat. Genau so hatte sie geguckt, als sie ihrer kleinen Schwester die Haare blau gefärbt hatte. Damals waren wir acht. Sie wartete, bis auch wirklich alle sie ansahen, dann sagte sie triumphierend: »Belly.«
Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen, dann prusteten alle los. Conrad lachte am lautesten. Ich warf ihr mit voller Wucht ein Kissen an den Kopf.
»Das gilt nicht. Du hast nicht ehrlich geantwortet«, sagte Jeremiah und wedelte mit dem Zeigefinger in ihre Richtung.
»Hab ich wohl«, sagte Taylor schlau. »Ich würde mir Belly aussuchen. Sieh sie dir doch mal genauer an, Jeremy, die beste aller kleinen Schwestern. Die ist so eine scharfe Braut geworden, nur du merkst das nicht.«
Ich verbarg mein Gesicht hinter einem Kissen. Ich wusste, ich war noch röter angelaufen als Steven zuvor. Vor allem deswegen, weil es nicht stimmte. An mir war nichts scharf, und das war jedem von uns klar. »Hör schon auf, Taylor, bitte.«
»Ja, bitte hör auf, Tay-Tay«, sagte Steven. Auch er war immer noch rot.
»Wenn du’s so ernst meinst, dann küss sie doch«, sagte Conrad, die Augen immer noch auf den Fernseher gerichtet.
»Hey«, sagte ich und funkelte ihn böse an. »Ich bin ein lebendiger Mensch. Man kann mich nicht einfach küssen, ohne mich zu fragen.«
Er sah zu mir herüber. »Das musst du nicht mir sagen, ich will dich ja nicht küssen.«
Wütend sagte ich: »Ist ja völlig egal, ich erlaub’s so und so nicht. Keinem von euch.« Am liebsten hätte ich ihm die Zunge rausgestreckt, aber dann hätte es nur wieder geheißen, ich sei kindisch.
»Ich hatte ja Wahrheit gewählt, nicht Pflicht«, warf Taylor schnell ein. »Deshalb wird jetzt auch nicht geküsst.«
»Es wird nicht geküsst, weil ich dich nicht küssen will«, verbesserte ich sie. Mir war so heiß, teils weil ich wütend war, teils weil ich mich geschmeichelt fühlte. »Und jetzt Schluss mit dem Thema. Du bist dran mit deiner Frage.«
»Na schön. Jeremiah – Wahrheit oder Pflicht?«
Jeremiah lehnte lässig an der Couch. »Pflicht«, sagte er.
»Okay. Dann küsse jemanden in diesem Raum. Egal wen.« Taylor sah ihn selbstsicher und erwartungsvoll an.
Es war, als säßen alle auf der Stuhlkante, während wir darauf warteten, was Jeremiah gleich sagen würde. Würde er es tatsächlich tun? Es passte eigentlich nicht zu ihm, bei einer Mutprobe zu kneifen. Ich für meinen Teil war neugierig, wie er es machen würde, ob französisch oder nur flüchtig auf die Wange. Außerdem fragte ich mich, ob es wohl das erste Mal sein würde, dass er sie küsste, oder ob sie es schon während der letzten Tage getan hatten, vielleicht in der Spielhalle, wenn ich gerade mal weggesehen habe. Ich war mir da eigentlich sicher.
Jeremiah setzte sich gerade hin. »Ganz ruhig jetzt«, sagte er und rieb sich grinsend die Hände. Taylor lächelte zurück und legte den Kopf schief, so dass ihr die Haare leicht vors Gesicht fielen.
Jeremiah beugte sich über mich und fragte: »Okay?« Und bevor ich irgendetwas antworten konnte, küsste er mich mitten auf den Mund. Seine Lippen waren leicht geöffnet, aber es war kein Zungenkuss oder so. Ich versuchte, ihn wegzuschieben, aber er küsste mich einfach immer weiter.
Ich stieß ihn noch einmal weg, und dieses Mal ließ er sich ganz entspannt in die Polster sinken. Den anderen blieb der Mund offen stehen, außer Conrad, der nicht einmal überrascht aussah. Andererseits – Conrad sah nie überrascht aus. Ich selbst jedenfalls schnappte nach Luft. Das war gerade mein erster Kuss gewesen. Vor anderen Leuten! Vor meinem eigenen Bruder!
Ich konnte es nicht fassen, dass Jeremiah mir auf die Art meinen ersten Kuss gestohlen hatte. Ich hatte so darauf gewartet, hatte mir etwas ganz Besonderes gewünscht, und wie war es passiert? Bei einer Runde Wahrheit oder Pflicht ! Wie banal konnte das Leben eigentlich sein? Und was dem Ganzen die Krone aufsetzte – er hatte es nicht getan, weil er mich gern mochte, sondern nur, um Taylor eifersüchtig zu machen.
Und es hatte funktioniert. Aus schmalen Augenschlitzen starrte sie Jeremiah an, als hätte er ihr eine Art Fehdehandschuh hingeworfen. Hatte er auf
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