Der Sommer der Gaukler
nicht...«, flüsterte sie befangen.
Wallerschenk legte den Kopf schief und betrachtete sie. Unglaublich – dieses reizvolle Wesen sollte die Tochter des vierschrötigen und schiefzahnigen Wirts sein? Diese sehnsuchtsvollen Augen, diese makellose Jugend! Wie alt mochte sie sein? Achtzehn, neunzehn? Wie würde sie erst aussehen ohne dieses hässliche Kopftuch, ohne Schürze und unförmigen Rock?
»Sie weiß es nicht...« Wallerschenk legte einen milden Tadel in seine Stimme. »Dann – kennt Sie wenigstens das Gedicht von jener Rose, die im Verborgnen blüht?«
Uralte Kamelle, schalt er sich. Bei den Damen des Ensembles konnte er damit schon lange nicht mehr landen.
»Warum...«, hauchte das Mädchen. Ihre Lider flackerten. Wallerschenk schmunzelte.
»Warum! Oh, Mädchen! Schönes Kind! – Weil Sie ihr ähnelt!« Sephas Finger bewegten sich, als suchten sie irgendwo Halt. »Gehens, gnä’ Herr...«, sagte sie verschämt.
»So lächle Sie doch«, sagte Wallerschenk mit warmer Stimme. »Oder ist es nicht erlaubt, die reine Wahrheit zu sagen?«
Ihre Augen schimmerten voller Seligkeit, und ihr Blick wanderte benommen über Wallerschenks Gesicht. Dann, wie vom Blitz getroffen, stürzte sie auf die Knie und wühlte hastig inihrem Korb. »Ich muss... der Vater...« Sie machte eine hastige Kopfbewegung.
Wallerschenk runzelte ärgerlich die Stirn. Dann sah er hinter sich. Im Tor des Wirtschaftshofes stand Kolber. Er musste sie schon eine ganze Weile beobachtet haben.
9
L angsam wälzte sich Vesters Bewusstsein aus bleiernem Schlaf. Mit leisem Ächzen stemmte er sich von seiner Pritsche ab. Er stützte sich auf seine Ellbogen und blinzelte seine verklebten Lider frei. Der Schleier vor seinen Augen löste sich. Es musste bereits heller Vormittag sein; durch das rauchtrübe Fensterglas fiel ein bierfarbenes Lichttrapez auf die schmutzigen Bohlen. Fliegen summten träge durch die staubflirrende Luft. Von außen drang das Plätschern des Quellbrunnens in die Kammer.
Mit einem Schlag war Vester hellwach. Er riss Mund und Augen auf, sein Herz schlug wie ein Hammerwerk, in seinen Ohren begann es zu rauschen. Mit einem Fluch schleuderte er die Decke von sich. Sein Blick ruckte panisch im Halbdunkel umher. Dann sank er mit einem Seufzer zusammen. Die Bündel der Männer lagen noch auf ihrem Platz.
Die Erinnerung kam zurück: Gestern Abend hatten sie verabredet, den zerstörten Stollen noch einmal zu inspizieren. Aber wieso hatten sie ihn nicht geweckt? Vester war zornig. Er verzichtete auf Schonung, er war kein Krüppel. Er war noch immer der Steiger!
Er zurrte seinen Hosenstrick fester, humpelte nach draußen und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann richtete er sich auf und streckte sich. Sein Magen knurrte vernehmlich. In der Anrichte neben der Feuerstelle fand er ein Stück trockenes Brot; Krister musste es ihm übriggelassen haben. Gedankenverlorenkaute er daran. Er wollte gerade nach seiner Jacke greifen, als er Schritte auf dem Geröll vor der Hütte hörte.
»Wir wollten dich schlafen lassen«, erklärte Silvan. »Habs gespannt«, knurrte Vester.
»Ein Steiger nutzt uns nit, wenn er nit wieder ganz auf der Höh ist«, sagte Tamerl.
»Ich bin auf der Höh.«
»Du horchst mir nit zu, Vester. Hab gesagt: Ganz auf der Höh!«
»Jaja«, brummte der Steiger. »Hättets mich trotzdem wecken können. Meint ihr nit, dass ich auch wissen muss, was da drinnen los ist?«
Er stand auf und schlüpfte in seine Jacke.
»Brauchst nit nochmal schauen. Wir haben auch noch Augen im Kopf drin«, sagte Jagge ärgerlich. Die anderen nickten. »Aber ich muss wissen, ob –«
Severin sah auf. »Dann horch zu, Vester. Das Gute zuerst: Es ist weniger hin, als wir befürchtet haben. Bis zur neuen Zech kommt eins noch gut durch, da steht noch alles.«
»Wenn eins vom Wasser absieht, das bis an die Waden geht«, ergänzte Jagge. Er wirkte mutlos.
»Weiter?«
»Es geht dann noch gute hundert Fuß weiter. Bis zum Ort aber kommst du nit mehr. Auf eine Läng von guten sechzig Fuß ist der Bau beim Teufel. Auf Deutsch: Die ganze Streck, die uns in den letzten Wochen halbwegs was eingebracht hat, ist eingebrochen. Und die Brüh steht dir schon vorher bis zur Brust.«
»Der Bub muss einen Wasserlauf angeschlagen haben.« Silvan wandte sich zu Krister und grinste. »Der sollt doch besser als Brunnenbauer arbeiten.«
Der Junge lächelte angestrengt.
»Einen Wasserlauf kann eins ableiten«, sagte Vester.
»Aber nicht, wenns ein
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