Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
Dass sie sich so merkwürdig fühlte, lag bestimmt an der Hitze im Saal. Und dass sie sich seiner Nähe so bewusst war … nun, das lag daran, dass sie miteinander tanzten.
»Dr. Berridge«, sagte sie atemlos, »wir sind doch Freunde, oder?«
Er wandte keinen Blick von ihr. »Ja, Victoria, wir sind Freunde.« Ein Anklang trauriger Distanziertheit war in seine Stimme gekrochen. Der Hauch eines Verlustes.
Noch bevor Victoria dem größere Beachtung schenken konnte, brach die Musik abrupt ab.
Ein Raunen ging durch die Menge, das Meer der Feiernden wich auseinander.
»Ach du liebe Güte«, stieß Victoria atemlos hervor, als sie sah, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregt hatte.
Falls Jane irgendwelche theatralischen Ausbrüche von Jason erwartet hatte, als sie ihm Mr Brandon vorstellte, sollte sie enttäuscht werden. Noch nicht einmal der Hauch einer Überraschung huschte über sein Gesicht. Jason verbeugte sich nur höflich, und Mr Brandon erwiderte die Geste. Anschließend plauderten sie einige Minuten über Manchester und dessen Architekturgeschichte, über die Mr Brandon bedauerlicherweise kaum Bescheid wusste. Dass Jason und Penelope ihre Jugendjahre gemeinsam verbracht hatten, wurde mit keinem Wort erwähnt.
Jane wippte im Takt der Musik mit dem Fuß und ließ ihre Aufmerksamkeit ein wenig abschweifen. Dr. Berridge schien es mit Victoria auf dem Parkett sehr wohl zu ergehen; ihre Wangen zeigten ein helles Rot, und sie bewegte sich mit perfekter Anmut. Hoffnungsvoll beobachtete Jane, wie Dr. Berridge sich eine Winzigkeit näher zu Victoria beugte und damit, ob sie es nun bemerkte oder nicht, an den Grenzen des Anstands kratzte.
»Starrst du deinen Lieblingsdoktor immer noch an?«, hörte sie neben sich Jason fragen. Mr Brandon und Penelope hatten ihre Aufmerksamkeit Lady Wilton geschenkt, die sich wortreich über Ernährungsvorschriften für Kinder ausließ, wobei ihr besonderes Augenmerk der Frage galt, ob ein deftiges Stew für Kleinkinder empfehlenswert sei oder nicht. Jason hatte derweil – klugerweise, wie Jane fand – seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt.
Doch leider war sie es, der jetzt sein Interesse galt. Was sich nur als Ärgernis herausstellen kann, dachte Jane und verkniff es sich, die Augen zu verdrehen.
»Er schlägt sich recht wacker auf dem Parkett, findest du nicht auch? Zumindest für einen Landarzt.« Sie warf ihrem Bruder einen giftigen Blick zu.
Jason grollte ein wenig. Mit Lust und Leidenschaft hatte Jane sich damals in ihre Tanzstunden geworfen; Jason hingegen nicht. Es war eine Tatsache, dass er sich während des ganzen Abends nur viermal zum Tanzen aufgerafft hatte, und das auch nur für die Reels. Dieser schottische Volkstanz war der einzige Tanz, den er sich zutraute.
»Es kann durchaus sein, dass deine Tricks diesmal ins Leere laufen«, feixte Jason. »Der arme Mann scheint einzig und allein für seine Partnerin Augen zu haben.«
»Victoria?« Jane war schockiert, dass Jason offenbar durchschaut hatte, was andere (insbesondere Victoria) nicht durchschauen konnten. »Wie kommst du darauf?«
»Du bist nicht die Einzige in der Familie mit Einfühlungsvermögen.«
Aber die Einzige, die damit umzugehen weiß, dachte Jane, behielt ihren Gedanken aber für sich.
»Man sieht es daran, wie er sie anschaut. Und wie er sie hält«, führte Jason aus und wurde ein klein wenig rot. »Ich muss es doch nicht noch näher erklären, oder?«
Jane schüttelte den Kopf und entlastete ihn von der Notwendigkeit, eine Unterhaltung zu führen, in der es um Gefühle ging.
Aber seine Worte ließen Janes Gedanken abschweifen und weckten so etwas wie Sehnsucht in ihr … vielleicht nach etwas, das sie nicht hatte. Wie lange ist es her, dass jemand mich beim Tanzen eine Spur zu eng an sich gezogen hat?, dachte sie und fühlte sich plötzlich ein wenig gereizt. Wann zuletzt ist mir jemand einen Schritt zu nahe gekommen? Nicht dass sie den Wunsch hatte, dass jemand ausgerechnet auf diesem Fest es tat – aber dieses Kribbeln, wenn eine Hand sie wie zufällig streifte, oder wenn sie durch den Raum einen Blick auf sich gerichtet spürte und ihn erwiderte …
Dieses atemberaubende Gefühl, ausgelöst von einer einzigen Berührung. Während ihrer ersten Saison in London hatte sie getanzt und geflirtet; sie war so jung und so naiv gewesen – und in der vergangenen Saison hatte sie versucht, wieder etwas von dieser goldenen Unschuld und Freude einzufangen. Und doch: Seit ihrer
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