Der Sommer der Toten
gelang es ihnen doch, das Pfarrhaus zu verlassen und die unwirkliche und groteske Situation hinter sich zu lassen.
Bianca hatte kein gutes Gefühl dabei. Werner hatte ihr versprochen, nicht draußen herumzulaufen und sie hatte keinen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Allerdings musste sie mehr als einmal feststellen, dass Werner als lebender Toter über einen ganz eigenen Pragmatismus verfügte.
Dinge, die normal denkende Menschen als abscheulich betrachten würden, tat Werner ohne zu zögern – letztlich nur, um den effektivsten Weg zu finden, eine gestellte Aufgabe zu erfüllen.
Natürlich war es der einfachste Weg, den Pfarrer am Herumlaufen zu hindern, indem man ihm seiner Fortbewegungsmöglichkeiten beraubte. Das sah Bianca ohne Weiteres ein. Aber sie würde niemals auf die Idee kommen, einem Menschen, auch wenn er noch so tot sein mochte, die Knochen gewaltsam zu zertrümmern.
Bianca glaubte auch, dass Werner Anna beschützen wollte, indem er den Pfarrer tötete. Dennoch hatte sie dieser Akt eiskalter Brutalität bis aufs Mark erschüttert.
Sie machte sich nichts vor. Auch wenn sich alle Anwesenden mit Witzen und ach so coolen Sprüchen über diese furchtbare Situation hinweggerettet hatten, waren sie doch über alles, was geschehen war, mehr als entsetzt.
Es würde bestimmt einige Zeit dauern, bis sich alle Anwesenden erst einmal richtig über die Situation im Klaren waren, dass sie einige Zeit mit lebenden Toten in einem Raum verbracht hatten. Auch die kompromisslose Härte, die lebende Tote an den Tag legten, wenn es sein musste, gepaart mit der Fürsorge für alle, die als Freunde galten, musste man sich erst verinnerlichen. Diese krassen Gegensätze zwischen diesen beiden Extremen würde man bei lebenden Menschen mit allerlei psychopathologischen Synonymen belegen. Hier gab es keine Psychologen, die bei Toten eine Diagnose erstellen würden und lebenden Zeugen helfen konnten, diese Erlebnisse in einem vernünftigen Maß einzuordnen.
Entsprechend still waren alle, als sie den Weg ins Dorf hinunter liefen. Irmhild wimmerte gelegentlich leise vor sich hin. Anna, Bianca und der Kommissar waren in dumpfem Brüten versunken.
Anna schien sich ja schon vor langer Zeit klargemacht zu haben, dass ihr Schicksal Dinge bereithielt, die nicht mit normalen Maßstäben zu messen waren. Bianca nahm sich fest vor, sie dahingehend noch mal ausgiebiger zu befragen.
Sie, der Kommissar und auch Klaus waren indessen in eine Situation gestolpert, die sie noch vor wenigen Tagen als absoluten Mumpitz abgetan hätten, hätte ihnen jemand von solchen Ereignissen berichtet.
Bianca richtete sich jetzt schon innerlich darauf ein, dass sie noch eine lange Nacht mit Diskussionen vor sich hatten. Widerstrebend nahm sie sich auch vor, Irmhild mit einzubeziehen. Immerhin war auch sie jetzt mit Ereignissen konfrontiert worden, die sie auch erst mal einordnen musste.
Vielleicht würde sie ja etwas zugänglicher werden, wenn sich der erste Stress erst einmal gelegt hatte.
Sie erreichten Annas Pension, kurz bevor Sandra das Lokal schließen wollte. Anna sah auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es bereits schon elf Uhr abends war – Polizeistunde.
Sandra betrachtete die Ankömmlinge mit einer Mischung aus Neugier und Beunruhigung. Anna bedankte sich bei ihr und bat sie, auch am nächsten Morgen wieder auszuhelfen.
Sandra stimmte mit kurzem Kopfnicken zu und ging.
Da Sandra bereits die Lichter im Gastraum gelöscht hatte, ging Anna zum Sicherungskasten und schaltete sie wieder ein. Sie bat den Kommissar, an einem der Tische Platz zu nehmen und fragte ihn, ob er was trinken wollte. Der Kommissar entschied sich für ein Bier. Anna brachte ihm das Gewünschte und ging anschließend zum Schlüsselbrett hinter der Theke, um Irmhild ein Zimmer zuzuweisen.
„Wie wäre es, wenn wir uns in zehn Minuten wieder hier unten treffen?“, schlug Bianca vor.
„Besser zwanzig“, entgegnete Anna. „Dann kann ich noch rasch was Essbares vorbereiten. Ich nehme an, ihr habt auch Hunger.“
„Wäre nicht schlecht“, antwortete Bianca vorsichtig. „Obwohl ich mir da noch nicht so sicher bin. Aber ein Fehler ist das gewiss nicht. Mach am besten etwas, das nicht kalt wird. Und mach dir nicht so viel Arbeit. Wenn du willst, komme ich nach und helfe dir.“
„Danke“, sagte Anna. „Nett gemeint, aber die Küche ist absolutes Sperrgebiet für jeden Gast. Sieh lieber zu, dass du dich mit Klaus hier runter machst. Ich komme
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