Der Sommerfaenger
Jemand hat … die Katzen sind …«
Der Schüttelfrost überfiel sie ohne Vorankündigung. Das Telefon glitt ihr aus der Hand und landete mit einem scheppernden Geräusch auf dem Boden. Merle hatte nicht die Kraft, sich danach zu bücken, nicht mal die Energie, den Blick von dem Grauen abzuwenden.
Sie hörte sich hecheln und wartete darauf, dass sie ohnmächtig würde. Doch das passierte nicht. Sie schloss die Augen in der kindlichen Hoffnung, dass alles wäre wie immer, sobald sie sie wieder öffnete.
Aber das war nicht so.
Tot. Alle tot.
Das armselige Wimmern kam von oben. Merle hob den Kopf und blickte direkt in die verängstigten Augen von Klecks, einem betagten schwarzen Kater, der seinen Namen einem schneeweißen Flecken über der Nase verdankte.
Er hatte sich in sein Lieblingsversteck zurückgezogen, ein dickes braunes Kunststoffrohr, das von den letzten Renovierungsarbeiten übrig geblieben war und in dem er sich gern verkroch. Ein Mitarbeiter hatte es direkt unter der Decke des Freigeheges festgemacht, wo es von einem der Kratzbäume halb verdeckt war.
Das hatte dem armen Kerl das Leben gerettet.
Vorsichtig stieg Merle über die toten Leiber hinweg, balancierte über den glitschigen Boden. Sie kletterte auf eine wacklige Kiste und redete beruhigend auf den Kater ein. Klecks fauchte sie verwirrt an, ließ sich jedoch widerstandslos aufnehmen und duckte sich an Merles Schulter.
Er zitterte wie Espenlaub.
Merles Tränen tropften auf sein gesträubtes Fell. Sie traute sich nicht, den Raum ein zweites Mal zu durchqueren, sackte auf der Kiste zusammen und starrte heulend auf die toten Katzen, den Kater fest an sich gepresst.
Klecks wehrte sich nicht. Er hatte für nichts Augen, nicht mal für die Fliegen, die, vom Geruch des Bluts angezogen, mit hungrigem Surren über den Körpern kreisten.
Sacht schaukelte Merle vor und zurück, bis der Kater in ihren Armen leise zu schnurren begann.
*
Als Bert seinen Wagen im Parkhaus des Präsidiums abstellte, war es bereits Mittag. Nach einer kurzen Nacht war er frühmorgens in Hildesheim aufgebrochen, doch auf der Rückfahrt hatte ein Stau nach dem andern die Autobahnen lahmgelegt. Obwohl die Temperaturen auch in Köln deutlich gefallen waren, fühlte er sich verschwitzt, und die Zunge klebte ihm am Gaumen.
Die Gespräche mit Karsten Spengler und seinen Kollegen waren fruchtbar gewesen. Der Anruf von Tessa schließlich hatte sie alle in Hochstimmung versetzt. Die Fingerabdrücke, die die Spurensicherung im Innern von Lukas Tadikkens Volvo sichergestellt hatte, waren mit denen identisch, die an den Tatorten Albert Kluth und Lisa Darwisius gefunden worden waren.
Beides zusammen, die Übereinstimmung der Fingerabdrücke und die Identifizierung des Mannes auf dem Foto als Lukas Tadikken, bedeutete, dass dieser mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Täter war, den sie suchten.
Oder er hatte die Leichen nur entdeckt.
Den Gedanken hatte Bert auch Karsten Spengler gegenüber geäußert. Der hatte bedächtig genickt.
»Auszuschließen ist das nicht«, hatte er widerstrebend zugegeben, »rein logisch betrachtet. Jedoch höchst unwahrscheinlich.«
Aber war nicht genau das ihre Aufgabe? Auch das Unwahrscheinliche als möglich anzusehen? Unvoreingenommen zu ermitteln, den Gesetzen der Logik zu folgen und niemanden vorzuverurteilen?
Zum wiederholten Mal rief Bert sich die Anhaltspunkte ins Gedächtnis, die für Lukas Tadikken als Täter sprachen. Dass sich seine Fingerabdrücke in der Wohnung gefunden hatten, die er sich mit Albert Kluth geteilt hatte, war selbstverständlich. Aber er war verschwunden, und das machte ihn verdächtig.
Dass er sich am Hildesheimer Tatort aufgehalten und seine Fingerabdrücke auch dort hinterlassen hatte, ließ sich nicht mehr ohne weiteres erklären. Und wieder war er nach dem Mord verschwunden.
Es war jedoch sein Anruf bei der Vermieterin des Ferienapartments, der Bert vor allem nachdenklich stimmte. Aus welchem Grund sollte ein Mörder auf der Flucht so etwas tun? Um ein Spiel mit der Polizei zu treiben? Um einem andern etwas anzuhängen? Dazu hätte er konkretere Angaben machen müssen. Aber Lukas Tadikken hatte lediglich einen Zusammenhang der Fälle Kluth und Darwisius behauptet.
Bert hatte das Gefühl, die Orientierung zu verlieren und sämtliche Überlegungen verschwimmen zu sehen. Mit Mühe rief er sich in Erinnerung, dass es diese Phase bei jeder Ermittlung gab und dass sie oft reinigende Wirkung hatte. Als könnte man ein
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