Der Spinnenmann
an. »Überleg mal, wenn weitere aus der Bande in diesem Zustand auftauchen? Dann haben wir hier in unserem friedlichen Oslo Zustände wie in Chicago …«
Das Lagerhaus
Am folgenden Tag stand ich auf der Vaterlandsbrücke und lehnte mich über das Geländer. Es war erst Viertel vor fünf, doch bereits dunkel. Ich fror wie ein Hund. Mein dicker Ulstermantel konnte die in der Dunkelheit aufziehenden, durch den eisigen Luftzug vom Akerselv verstärkten Minusgrade nicht abhalten. Auf der dunklen, zitternden Wasserfläche unterhalb der Brücke wurden die Lichter der kommunalen Fischküche auf der Vaterland-Seite gespiegelt. Neben weißen Schaumperlen von Holters Seifen- und Kerzenfabrik segelten dicke Blasen und cremegelbe Gischt vorbei.
Es gab etwas Unheimliches an diesem winterdunklen Gewässer, dachte ich. Mit seinen tanzenden Lichtern und Schattierungen wirkte es geradezu sanft und einladend. Plötzlich glaubte ich, dort unten ein Gesicht zu sehen. Ein kleines, zierliches Frauengesicht…
»Pssst!« Das Geräusch riss mich unmittelbar zurück in die Wirklichkeit. Es kam vom Fluss. Gleich darauf glitt ein dunkler Schatten unter dem Brückenbogen hervor.
»Bist du das, Straken?«
Der Mann in dem kleinen Boot nickte und ruderte zur Westseite des Flusses, wo eine überwucherte Steintreppe zum Ufer hinunterführte.
Straken saß auf der Ruderbank und wirkte angespannt. Seine Augen blickten wachsam unter dem Schirm der Mütze hervor. Er hatte ein großes Paket bei sich.
»Wann sagst du mir denn endlich, wer mich treffen will?«, fragte ich.
»Bald. Spring schon an Bord.« Ich tat wie geheißen.
Allerlei Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, während Straken langsam den Fluss hinaufruderte. Als er mich in der Zeitung angerufen und gesagt hatte, mich wolle >jemand, den ich kannte< treffen, hatte ich inbrünstig gehofft, die Nachricht stamme von Kiss. Trotzdem wusste ich nicht, wie sicher dieser Ausflug eigentlich war. Ich ahnte ja nicht, ob Kiss sich vor Manteuffel versteckt hielt oder von ihm gefangen gehalten wurde. Die Tatsache, dass Straken als Mittelsmann auftrat, schien auf Letzteres zu deuten. Traf meine Vermutung zu, so lief ich Gefahr, in eine Falle zu tappen.
Straken mühte sich ab, das Boot gegen die Strömung zu rudern. Ich versuchte ihn auszuquetschen, aber anscheinend hatte man ihm für den Fall, dass er nicht den Mund hielt, mit Repressalien gedroht. Der geschäftigste Spitzel Vaterlands war mit einem Mal verschlossen wie eine Auster.
Straken lag schwer in den Rudern. Bald hatten wir die Hausmannsbrücke passiert und eine Reihe baufälliger Lagerhäuser erreicht, die auf Holzpfählen halbwegs in den Fluss ragten. Am Ufer war es stockdunkel, aber Straken kannte sich offenbar gut aus. Wir passierten ein paar solide, mit Algen überzogene Holzpfeiler, und das Geräusch der Ruderblätter verriet mir, dass wir uns unter einem Dach befanden. Erst als das Boot gegen das Ufer scharrte, hörte Straken zu rudern auf. Er legte die Ruderblätter auf den Bootsboden und kam zu mir.
»Steh auf!«, flüsterte er. »Und gib mir die Taschenlampe aus der Ruderducht achtern!«
Als ich ihm die Lampe reichte, sah ich, dass wir unter eines der Lagerhäuser gerudert waren. Gleich hinter mir lag die Hausmannsbrücke mit ihrem von einer einzelnen Laterne erleuchteten, kunstvollen Gitterwerk aus Schmiedeeisen.
Straken zeigte auf eine Leiter, die zu einer Luke über uns führte.
»Geh da rauf, und dann die Treppe hoch zum Dachboden.« Er reichte mir die Lampe und das Paket. »Kommst du nicht mit?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde hier hübsch warten, bis du zurückkommst.«
Der Dachboden bestand aus einem schmalen Gang und wurde von Verschlagen gesäumt, die durch Holzrahmen und Maschendraht voneinander abgeteilt waren. Die Türen waren nach demselben Prinzip gefertigt und mit Vorhängeschlössern versehen. Als ich in eines der Kämmerchen hineinleuchtete, sah ich nichts anderes als Kästen, Koffer und Möbel.
Nach einer Weile wagte ich einen Vorstoß und rief leise: »Kiss, bist du hier?«
Ich stand ganz still da und lauschte. Nach ein paar Sekunden hörte ich ein Geräusch aus einem der Verschlage. Ich lief hin und leuchtete hinein.
»Hallo!«, flüsterte ich. »Ich bin’s, Erik!«
Hinter einer alten Kommode bewegte sich etwas, und einen Augenblick später gab sich ein Mann zu erkennen. Ich brauchte eine Weile, bis ich sah, dass es sich um Birger Bay handelte. Nicht viel war von dem hartgesottenen
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