Der Stern von Yucatan
Mann mit dem Funk sprach wieder mit dem anderen Polizisten. Es folgten hektische Aktivitäten. Seile und Bahren wurden herangeschafft, Befehle geschrien.
“Was passiert jetzt?”, fragte sie mit aufkeimender Hoffnung. “Sagen Sie es mir!” Sie packte den Polizisten am Arm und ließ nicht los, bis er ihr Auskunft gab.
“Der zweite Mann lebt.”
Sie wurde fast ohnmächtig vor Erleichterung.
“Aber nur gerade so.”
“Dann müssen wir ihn ins Krankenhaus bringen! So schnell wie möglich. Bitte beeilen Sie sich!”
Jack lebte. Es gab eine Chance. Unerwartete Hoffnung stieg in ihr auf wie eine Luftblase in Wasser. Fast hätte sie den Mann umarmt, der es ihr sagte.
Die Ambulanz war schon dort. Ein Rettungssanitäter versuchte, sie von der Klippe wegzuzerren, um ihre Wunden zu behandeln, doch sie widersetzte sich. Sie würde erst gehen, wenn sie etwas über Jacks Gesundheitszustand gehört hatte.
“Er lebt.” Sie weinte vor Erleichterung. “Er lebt.”
“Miss, Miss, gehen Sie jetzt zum Doktor?”
“Nicht eher, bis Jack heraufgebracht worden ist.”
“Aber Miss …”
“Später beantworte ich alle Ihre Fragen”, versprach sie. Ihr Blick war auf Jack geheftet, der von etwa einem halben Dutzend Männern unten und ebenso vielen oben über die Klippe herauf gehievt wurde. Es erstaunte sie, dass eine so schwierige Rettungsaktion überhaupt möglich war. Sie achtete darauf, nicht im Weg zu sein. Ihr schienen Stunden koordinierter Anstrengungen zu vergehen, in Wahrheit waren es nur vierzig Minuten.
Dann war Jack oben, und man schob ihn in den Ambulanzwagen. Das Rettungsteam – die Köpfe hochrot vor Anstrengung – trat vom Fahrzeug zurück.
Ehe jemand etwas einwenden konnte, kletterte Lorraine hinten in die Ambulanz zu den Sanitätern. Endlich sah sie Jack aus nächster Nähe.
Als Krankenschwester kannte sie Unfallopfer, doch so etwas Schlimmes hatte sie noch nicht gesehen. Sie war entsetzt über das Ausmaß seiner Verletzungen. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Sie fühlte den Puls an seiner Halsschlagader, der so schwach war, dass sie ihn kaum spürte. Seine inneren Verletzungen mussten massiv sein. Offensichtlich waren etliche Knochen gebrochen, und wahrscheinlich hatte auch das Rückgrat einiges abbekommen.
Die Sanitäter arbeiteten intensiv, schlossen ihn an die Infusionen an und bekämpften den Schockzustand. Lorraine sah nur zu, hielt Jacks schlaffe Hand und betete.
Die Sirene heulte auf, als sie auf den Highway fuhren.
Die nächsten beiden Tage vergingen für Lorraine wie im Nebel. Jack wurde sofort in den Operationssaal geschoben. Seine Verletzungen waren so gravierend, wie sie befürchtet hatte, mit reichlich Möglichkeiten für Komplikationen. Sie wich nicht von seiner Seite, nicht mal, als ihr Vater kam.
Sie merkte, wie erschüttert Thomas Dancy von ihrem Anblick war. Ihre Augen waren von schwärzlichen Blutergüssen gerahmt, ihre Nase war gebrochen, und die Platzwunde an ihrem Kopf hatte mit fünfzehn Stichen genäht werden müssen. Seltsam, dass sie von dem Moment an, als Jack über die Klippe gestürzt war, keinerlei Schmerz mehr empfunden hatte. Ihre ganze Energie war dafür nötig gewesen, Jack zu retten.
“Raine?” Ihr Vater stand neben dem Krankenbett, in dem Jack bewusstlos und an viele Monitore angeschlossen lag.
Sie fiel ihm in die Arme und brauchte dringend seinen Beistand.
“Ich liebe ihn so sehr.” Erst jetzt begriff sie, dass sie nie zuvor wirklich geliebt hatte. Was sie mit Gary verband, war mehr Freundschaft als Leidenschaft. Sie waren gute Kameraden. Sie mochten sich, aber sie liebten sich nicht. In vielerlei Hinsicht war Gary eher die Wahl ihrer Mutter gewesen als ihre eigene.
“Kannst du mir sagen, was passiert ist?”, fragte Thomas sanft.
“Nicht jetzt.” Einige glaubten, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand, dass die durchlebten Qualen ihrem Geisteszustand geschadet hatten. Vielleicht stimmte das sogar. Sie konnte diese Dinge nicht mehr selbst beurteilen. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war allein Jack.
“Raine”, drängte ihr Vater. “Komm mit ins Hotel. Schlaf dich aus.”
“Nein.” Sie schüttelte den Kopf. “Ich habe es ihm nie gesagt.” Sie warf ihrem Vater einen kurzen Blick zu. “Ich lasse ihn nicht allein.”
“Liebt er dich auch?”, fragte Thomas leise und zögerlich.
“Oh ja”, flüsterte sie, unfähig die besondere Beziehung, die sie gehabt hatten, in Worte zu kleiden. Sie hatte Jacks Liebe nicht in Frage
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