Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
zögerte einen Moment, dann hob sie es vorsichtig an.
Der Anblick der Wunde war schrecklich. Die Klinge war über den Rippenbögen wieder ausgetreten, ein riesiger, von einem Hautlappen nur lose bedeckter Schnitt.
Christians Hand tastete sich auf die Wunde zu, dann schob sie sich unter die Haut in das Fleisch.
Sophie schrie auf.
»Der Sporn!«
Stöhnend zog Christian etwas aus der Wunde. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
»Ritter Rantzaus Sporn.«
Etwas Hartes, Schweres, wie ein Schlüssel, fiel Sophie in den Schoß. Sie spürte, wie sich Christian in ihren Armen entspannte.
»Er hat ihn nicht gefunden.«
Farid war aufgesprungen. Während Sophie noch immer starr und mit einem stummen Entsetzensschrei auf Christians Wunde starrte, hatte er das blutbefleckte Stück vorsichtig in die Hände genommen. Er wischte es an seinem Hemd sauber, dann drehte er es vorsichtig in den Händen hin und her.
»Das ist Gold«, flüsterte er und strich über das Metall. »Ein Sporn aus Gold. Und da ist etwas eingraviert – ein Name und ein Wappen.« Er zeigte auf eine Verbreiterung zwischen Reif und Rad.
»Rantzaus Wappen …«
Christians Stimme schien an Volumen zu verlieren, sie wirkte fast körperlos. Er atmete in schnellen, flachen Stößen, als ob er bemerkte, dass seine Zeit verrann.
»Was soll ich damit tun?«
Sophie begriff, dass Christian ihr ein Erbe hinterlassen wollte. Er drückte ihre Hand, dann zog er ihr Gesicht zu sich herab. Wie ein Eishauch strömten seine Worte auf sie ein.
»Rache«, das war sein dringlichster Wunsch. »Rache für den Tod des Vaters und für all die anderen.«
Sophie nickte, beruhigend strich sie Christian über den Kopf. Sie hätte so vieles anderes fragen wollen. Wie war er dem Morden entkommen? Wo war er all die Zeit über gewesen? Warum hatte er nicht nach ihr gesucht? Und wie war er wieder in die Fänge Ritter Rantzaus geraten?
Doch Christian kam erst zur Ruhe, nachdem sie ihm ihr Versprechen zugeflüstert hatte. Ja, sie wollte versuchen, Rantzau an den Galgen zu bringen. Matt lag er in ihren Armen, kaum noch Körper, nur noch Hülle und ein letzter Funke Lebenswille. Farid, der sein Hemd an einem der Wasserläufe benetzt hatte, träufelte ihm einige Tropfen auf die aufgesprungenen Lippen und kühlte seine glühende Stirn.
Der Tag verstrich in verzweifeltem Schweigen. Sophie, die immer wieder angstvolle Blicke mit Farid wechselte, klammerte sich an Gebete und Erinnerungen, an eine letzte Krume Hoffnung.
In den Bäumen über ihnen sangen die Vögel ungerührt, während Stunde um Stunde verrann. Bisweilen drangen die Kommandos der Gesellen aus den Gärten zu ihnen hinauf, doch niemand schien sie zu vermissen.
Christian dämmerte zwischen Schmerz und Fiebertraum, er hatte die Augen geschlossen. Ab und zu huschte ein Lächeln über seine Lippen, sein Atem war kaum noch wahrnehmbar.
Gegen Abend, die Sonne versank in warmem, tröstlichem Glanz, war jede Kraft aus seinem geschundenen Körper gewichen. Und wie ein Blatt im Wind wehte seine Seele davon. Sophie spürte ein Zittern, das durch ihr Innerstes fuhr. Sie zuckte zusammen, das Band zu Christian war zerrissen. Schluchzend hielt sie ihren Bruder in den Armen, während Farid ein Totengebet zu sprechen begann.
»Er ist fort, Sophie.«
Sie nickte und konnte sich doch nicht von ihm lösen. Sie blickte in Christians Gesicht, sah den Jungen darin, der einst erwartungsvoll zur Ochsentrift aufgebrochen war.
»Wir müssen ihn beerdigen.«
Farids Geschäftigkeit tat ihr weh, doch sie spürte, dass er recht hatte. Niemand sollte Christians Leichnam finden, er gehörte ihr allein.
Und während Farid Werkzeug holte, wusch sie den Körper ihres Bruders. Christian sah schön aus, seine Züge hatten sich entspannt. Sie fragte sich, wie sein Leben gewesen war. Hatte er nur den Tod und seinen Wunsch nach Rache gekannt? Sanft küsste sie seine Lippen, seine Lider, seine Hände. Wie wäre er als Mann gewesen?
Im Morgengrauen, nachdem Farid das Grab ausgehoben hatte, beerdigten sie Christian auf dem Hügel. Sie betteten ihn auf ein Lager von Blüten und duftendem Moos und legten ihn so, dass sein Blick hinunter in die Neuwerk-Gärten reichen könnte. Sophie wollte ihn bei sich wissen. Etwas war beendet – auch wenn es sich nicht vollendet hatte.
Als Farid die letzte Schaufel Erde auf die Grabstelle schippte, verschwand auch das Pferd. Es lief in den Wald und sie sahen es nie wieder.
NEUN
Der Schmerz überfiel Sophie noch am Grab.
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