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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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›Chalet‹ essen«, unterbrach ihn Granger, »während ich nebenan die Mädels bumse. Vorwärts, Joe. Du bist wenigstens ein Mann!«
    Ich glaube, in diesem Augenblick, während ich mich fragte, was ein Mann ist, empfand ich zum erstenmal Sympathie für Pyle. Er hatte sich von Granger ein wenig abgewandt und drehte mit der Hand sein Bierglas hin und her; sein Gesicht verriet, daß er sich deutlich von ihm distanzieren wollte. Er sagte zu Phuong: »Ich nehme an, daß Ihnen diese ganze Fachsimpelei allmählich zuwider wird – über Ihr Land, meine ich.«
    »Comment?«
    »Was willst du mit Mick anfangen?« fragte der Handelsattaché Bill Granger.
    »Hierlassen«, meinte er.
    »Das kannst du nicht tun. Du weißt nicht einmal, wie er heißt.«
    »Wir könnten ihn ja mitnehmen und ihn den Mädchen überreichen, damit sie sich um ihn kümmern.«
    Der Handelsattaché gab ein wieherndes, der Allgemeinheit gewidmetes Gelächter von sich. Er sah aus wie ein Gesicht auf dem Fernsehschirm. »Ihr jungen Leute könnt machen, was ihr wollt. Ich bin für solche Scherze zu alt. Ich nehme ihn mit nach Hause. Sagtest du nicht, daß er Franzose ist?«
    »Er sprach französisch.«
    »Wenn ihr ihn in meinen Wagen heben könnt …«
    Nachdem er abgefahren war, nahm Pyle mit Granger eine Rikscha, und Phuong und ich folgten ihnen in einer zweiten auf der Straße nach Cholon. Granger hatte versucht, sich zu Phuong in die Rikscha zu drängen, aber Pyle hatte ihn davon abgebracht. Während die Fahrer mit uns die lange Vorstadtstraße zum Chinesenviertel hinunterradelten, fuhren wir an einer Marschkolonne französischer Panzerwagen vorbei. Aus jedem Panzer ragte das Geschütz hervor, und ein stummer Offizier stand jeweils regungslos wie eine Galionsfigur unter den Sternen und dem samtschwarzen Himmelsgewölbe. Es gab also wieder Zusammenstöße, wahrscheinlich mit einer der privaten Armeen, vielleicht den Binh Xuyen, die das »Grand Monde« und die Spielhöllen von Cholon betrieben. Dies war ein Land rebellischer Adeliger, wie Europa im Mittelalter. Was taten also die Amerikaner hier? Kolumbus hatte ihr Land doch noch gar nicht entdeckt. Ich sagte zu Phuong: »Dieser Pyle gefällt mir.«
    »Er ist so still«, meinte sie, und das Eigenschaftswort, das sie als erste gebrauchte, blieb an ihm haften wie ein Spitzname in der Schule, bis ich es sogar aus Vigots Mund vernahm, als er mit dem grünen Schirm über den Augen dasaß und mir Pyles Tod mitteilte.
    Ich ließ unsere Rikscha vor dem »Chalet« halten und sagte zu Phuong: »Geh’ voraus und suche einen Tisch für uns: Ich sehe besser nach Pyle.« Dies war meine erste instinktive Regung – das Verlangen, ihn zu beschützen. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß es notwendiger war, mich selbst zu beschützen. Immer ist es die Unschuld, die stumm nach einem Beschützer ruft, während es so viel ratsamer wäre, uns vor ihr in acht zu nehmen: Die Unschuld gleicht einem stummen Aussätzigen, der seine Glocke verloren hat und nun durch die Welt zieht, ohne Böses zu wollen.
    Als ich das »Haus der fünfhundert Mädchen« erreichte, waren Pyle und Granger bereits hineingegangen. Ich fragte den Wachtposten der Militärpolizei, der gleich hinter dem Eingang stand: »Deux Americains?«
    Der junge Korporal der Fremdenlegion unterbrach die Reinigung seines Revolvers. Er deutete mit dem Daumen auf eine Tür im Hintergrund und machte auf deutsch einen Witz, den ich nicht verstand.
    In dem gewaltigen Innenhof, der sich offen unter dem Himmel hinbreitete, war gerade die Stunde der Rast. Hunderte von Mädchen lagen oder hockten im Gras und unterhielten sich mit ihren Gefährtinnen. Die Vorhänge der winzigen Kammern, die den Hof rings umsäumten, waren zurückgezogen – ein erschöpftes Mädchen lag mit gekreuzten Beinen allein auf einem Bett. In Cholon gab es Unruhen, die Truppen waren kaserniert, und hier war man beschäftigungslos: der Sonntag des Leibes. Aber ein dichter Schwarm zankender, balgender und kreischender Mädchen zeigte mir, wo noch Kundschaft zu finden war. Die alte Saigoner Geschichte von dem vornehmen Besucher fiel mir wieder ein, der beim Versuch, sich zum sicheren Ort des Polizeipostens durchzukämpfen, seine Hose eingebüßt hatte. Für Zivilisten gab es hier keinen Schutz. Wenn sie sich darauf einließen, im Revier des Militärs zu wildern, dann mußten sie auf sich selbst achtgeben und schauen, wie sie wieder herauskamen.
    Ich hatte eine Technik gelernt: Teile und herrsche! Ich

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