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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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aufgegebene Werkzeugfabrik ausfindig gemacht, die schon lange nicht mehr in Betrieb war. Innerhalb einer Stunde hatte er sie von den Verwandten ihres letzten Besitzers erworben. Innerhalb eines Tages hatte er die Fabrik wiedereröffnet. Innerhalb einer Woche waren die Bohrköpfe aus Rearden-Metall zur Brücke in Colorado geliefert worden.
    Sie besah sich die Brücke. Sie stellte ein schlecht gelöstes Problem dar, aber sie musste sich damit abfinden. Diese dreihundertsechzig Meter lange Stahlbrücke über die schwarze Schlucht war in der Ära von Nat Taggarts Sohn erbaut worden. Sie war schon lange nicht mehr sicher; sie war mit Balken, zunächst aus Stahl, dann aus Eisen, dann aus Holz, ausgebessert worden; nun war sie auch die Ausbesserungen kaum mehr wert. Sie hatte an eine neue Brücke aus Rearden-Metall gedacht. Sie hatte ihren Chefingenieur damit beauftragt, ihr einen Entwurf und eine Kostenschätzung vorzulegen. Die Zeichnung, die er ihr präsentierte, war die Darstellung einer nur wenig leichteren, schlecht an die größere Tragfähigkeit des neuen Metalls angepassten Stahlbrücke; die Kosten machten eine Umsetzung des Projekts undenkbar.
    „Entschuldigen Sie bitte, Miss Taggart“, hatte er beleidigt gesagt. „Aber ich weiß nicht, was Sie meinen, wenn Sie sagen, ich hätte keinen Gebrauch von dem neuen Metall gemacht. Dieser Entwurf ist eine Adaptierung der besten Brücken, die wir kennen. Was haben Sie erwartet?“
    „Eine neue Konstruktionsmethode.“
    „Was meinen Sie mit einer neuen Methode?“
    „Ich meine, dass als die Menschen den Baustahl erfanden, sie das neue Material nicht verwendet haben, um stählerne Kopien von Holzbrücken zu bauen.“ Zermürbt hatte sie hinzugefügt: „Machen Sie mir eine Aufstellung darüber, was wir tun müssen, damit die alte Brücke noch fünf Jahre hält.“
    „Ja, Miss Taggart“, hatte er erleichtert gesagt. „Wenn wir sie mit Stahl verstärken …“
    „Wir werden sie mit Rearden-Metall verstärken.“
    „Ja, Miss Taggart“, hatte er kühl erwidert.
    Sie blickte auf die schneebedeckten Berge. Ihre Arbeit im Büro in New York war ihr manchmal sehr mühsam erschienen. Sie war manchmal für einen Augenblick in der Mitte ihres Büros stehen geblieben, um durchzuatmen, wie gelähmt vor Verzweiflung über den knappen Zeitplan, den sie nicht mehr weiter dehnen konnte – an Tagen, wenn eine dringende Besprechung die nächste gejagt hatte, wenn sie über ausgediente Triebwerke, verfallende Güterwaggons, defekte Signalanlagen, fallende Einnahmen diskutieren musste, während sie an den letzten Notfall entlang der Rio-Norte-Baustelle dachte; wenn bei allem, was sie sagte, immer zwei grünblaue Metallstränge ihre Gedanken kreuzten; wenn sie Diskussionen unterbrochen hatte, weil ihr plötzlich bewusst wurde, warum ein ganz bestimmter Bericht in den Nachrichten sie irritiert hatte, und sie zum Telefonhörer gegriffen hatte, um den von ihr beauftragten Bauunternehmer anzurufen und zu sagen: „Woher bekommen Sie die Verpflegung für Ihre Männer? … Das hatte ich mir gedacht. Ja, die Firma Barton und Jones aus Denver ist gestern in Konkurs gegangen. Sie sollten sich besser nach einem neuen Lieferanten umsehen, wenn Sie sich nicht mit einer Hungersnot herumschlagen wollen.“ Sie hatte die Linie von ihrem Büro in New York aus gebaut. Es war ihr mühselig vorgekommen. Aber jetzt blickte sie auf die Strecke. Sie wuchs. Sie würde rechtzeitig fertig sein.
    Als sie feste, eilige Schritte hörte, drehte sie sich um. Ein Mann kam die Schienen entlang auf sie zu. Er war groß gewachsen und jung, auf seinem Kopf mit dem schwarzen Haar saß trotz des kalten Windes kein Hut. Er trug die Lederjacke eines Arbeiters, sah aber nicht wie ein Arbeiter aus, denn in seinem Gang lag eine gebieterische Sicherheit. Sie konnte sein Gesicht erst erkennen, als er näher herangekommen war. Es war Ellis Wyatt. Seit dem einen Gespräch in ihrem Büro hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
    Er kam näher, blieb stehen, sah sie an und lächelte.
    „Hallo, Dagny“, sagte er.
    Die kurze Gefühlswelle, die sie durchfuhr, sagte ihr alles, was diese beiden Worte ihr mitteilen wollten. Sie waren Vergebung, Verständnis und Anerkennung. Sie waren eine Verbeugung.
    Sie lachte auf wie ein Kind, glücklich darüber, dass die Welt wieder in Ordnung war.
    „Hallo“, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen.
    Seine Hand schüttelte die ihre einen Moment länger, als es eine Begrüßung erforderte. So

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