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Der stumme Handlungsreisende

Der stumme Handlungsreisende

Titel: Der stumme Handlungsreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lewin
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mir neu,
     Mrs. Thomas.«
    »Er ist Vertreter. Das
     ist die Abteilung, zu der er gehört, und er arbeitet auch tatsächlich
     im Verkauf. Sehr erfolgreich sogar. Er ist ein ausgesprochen talentierter
     Junge, mein Bruder. Er kann so ziemlich alles, was er sich vornimmt.«
    »Hört sich tatsächlich
     so an«, sagte ich. »Ihr Bruder hat also zusätzlich ein bißchen
     im Labor gearbeitet. Wissen Sie, um welche Art von Arbeit es sich dabei
     gehandelt hat?«
    »Nicht genau.
     Eigentlich überhaupt nicht. Nein«, sagte sie und sah mich bekümmert
     an.
    »Tja«, sagte ich
     und lehnte mich zurück. Soweit die harte Polsterung das zuließ.
    »Er ist ein wunderbarer
     Junge«, sagte sie. »Er würde mich auf jeden Fall bei sich
     haben wollen.«
    Ich nickte.
    Dann sagte sie: »Ich
     sehe keinen Grund dafür, warum ich nicht an Johns Bett sitzen sollte,
     wenn ich das möchte. Sie vielleicht?« Und sie brachte ein paar
     Tränen zustande.
    Ich wartete, bis der Tränenstrom
     versiegt war, dann ging ich.

 
    8
    Es war ein paar Minuten vor
     sieben, als ich auf meinen Parkplatz unten vor meinem Büro rollte.
     Meinem derzeitigen Büro. Mein derzeitiger Parkplatz. Der Parkplatz
     lag auf demselben Grund wie mein Haus, also würde er wohl auch
     zugebaut werden. Als ich die Treppe hinaufging, bemerkte ich, daß
     meine Tür nicht ganz geschlossen war. Die Sache mit der Tür war
     eine knifflige Angelegenheit, weil sie noch von meinem letzten Büro
     stammte, dem, das ebenfalls abgerissen worden war. Ich hatte die Tür
     aus Sentimentalität behalten. Die Schrift auf dem Glas lautet:
     »Albert Samson, Privatdetektiv. Immer hereinspaziert.«
    Was irgend jemand anscheinend
     auch getan hatte.
    So eine Zeitungsannonce
     bringt’s eben.
    Als ich die Tür öffnete,
     sah ich ein Mädchen hinter meinem Schreibtisch sitzen. Siebzehn,
     achtzehn Jahre alt, mit rötlichem Haar, dunkelbraunen Augen und
     Sommersprossen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Mit zwei Schritten
     stand ich im Zimmer und stolperte über einen Rucksack, den ich ganz
     bestimmt nicht mitten im Zimmer hatte stehenlassen. Ich hatte ihn
     nirgendwo stehenlassen; er gehörte mir nicht.
    »Ist das Ihrer, Miss?«
    Sie nickte. Dann öffnete
     sie die mittlere Schublade meines Schreibtisches. »He, da ist ja
     nichts drin«, sagte sie. »Warum ist da nichts drin?«
    »Weil ich, wenn ich außerhalb
     zu tun habe, das Büro offen lasse, damit sich obdachlose Kinder,
     streunende Hunde und gelegentlich vielleicht auch einmal ein Klient hier
     ausruhen können. In welche Kategorie fallen Sie?«
    Sie lächelte mich an,
     bis sie sah, daß ich nicht lächelte. »Ich glaube, ich
     falle in keine dieser Kategorien. Nicht wahr?«
    »Sehen Sie mal, junge
     Dame, es ist heiß. Ich habe einen harten Tag hinter mir…«
    Plötzlich stand sie auf.
     »Erkennst du mich wirklich nicht?« Es klang enttäuscht.
    Ich runzelte die Stirn. Sie
     sah tatsächlich ein bißchen aus wie…
    »Daddy!« sagte
     sie.
    »Gott«, sagte
     ich. Man muß schon ein weiser Vater sein, um sein eigenes Kind zu
     erkennen.
    »Aber ich habe dich
     erkannt! Und alles, was ich habe, ist ein Bild von dir, das mehr als zwölf
     Jahre alt ist.«
    »Mein Gott«,
     sagte ich, »mein Gott.«
    *
    Nach einer kleinen Umarmung
     brachte ich sie aus der Tristheit meines Büros in die Tristheit
     meiner Wohnung. »Ich habe heute erst einen Brief von dir bekommen«,
     sagte ich. »Da stand drin…«
    »…daß ich
     nächste Woche kommen würde. Aber ich kenne dich nur aus Briefen
     und von dem, was Mama über dich sagt. Und ich hatte Angst, daß
     du wegen meines Besuches nervös würdest. Also habe ich
     beschlossen, früher zu kommen, weil ich wollte, daß du
     entspannt bist und dir keine Sorgen machst.«
    »Ich kann nicht sagen,
     daß ich mich im Augenblick besonders entspannt fühle.«
    »Nun, dann setz dich
     doch hin. Du mußt einen schweren Tag hinter dir haben, wenn du erst
     um sieben nach Hause kommst. Ich hole dir ein Bier. Und ich nehme mir auch
     eins.«
    »Du bist größer
     geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe«, sagte ich.
     Dann setzte ich mich.
    Sie ging an den Kühlschrank;
     wir teilten uns die Bierdose, die sie dort fand.
    »Wann -?« begann
     ich.
    »Seit Viertel vor fünf.
     Und seit halb sechs warte ich hier auf dich. Ich habe zwischendurch Pause
     gemacht und einen Hamburger gegessen, für den Fall, daß du
     nicht genug zu essen für mich hast.«
    »Du bist wohl immer auf
    

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