Der stumme Ruf der Nacht
Cranberry und stellte das Glas auf den Tisch. »Es ist doch schon ganz schön spät, oder? Müssen Sie nicht nach Hause zu Ihrer Familie?«
Er sah mit unbewegter Miene zu ihr herüber. »Ich bin nicht verheiratet.«
Mit dem Kopf deutete er auf das Bild über der Stereoanlage, eine Wüstenlandschaft. »Haben Sie das gemalt?«
»Fiona ist die Künstlerin in der Familie. Sie kennen Sie doch, nicht wahr?«
Er knurrte undeutlich, was sie als »Nein« interpretierte.
»Das kommt schon noch«, sagte sie. »Sie rufen sie meist bei Morden und Überfällen und so. Gern auch bei Sexualdelikten. Sie kann gut mit Menschen umgehen.«
Er gab keine Antwort. Aber er war auch nicht gekommen, um über Fiona zu sprechen. Er ließ sich auf der Armlehne der Couch nieder. Im selben Moment begann Courtneys Herz schneller zu schlagen.
»Ich würde gern noch ein paar Dinge klären.«
»Schießen Sie los.« Sie bemerkte, wie er ihre Zehennägel ansah. Männer mochten Rot. Sie hatte keine Ahnung warum.
»Sie haben vorhin etwas von Ihrem Handy erzählt. Dass er es von Ihnen verlangt hat und Sie in Ihrer Handtasche nach Ihrem Pfefferspray gesucht haben.«
»Das stimmt.« Sie lächelte kooperativ.
»Wie kam Ihr Telefon dann auf den Rücksitz?«
»Hä?«
»Ihr Handy. Man fand es auf dem Boden vor der Rückbank.«
Courtney dachte zurück an den Kampf. Sie hatte ihm das Telefon gegeben. Kurz bevor er ihr mit Gewalt die Waffe in die Hand gedrückt hatte …
»Ich weiß nicht.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Was ist denn? Wie soll ich wissen, wie es dahin kam? Vielleicht hat er meine Tasche durchwühlt, nachdem ich weggerannt war.«
»Mit den Augen voll Pfefferspray?«
Sie sprang von der Couch auf. »Nach allem, was ich weiß, war er zu allem fähig! Oder vielleicht hatte er einen Komplizen. Einen Fluchtfahrer. Haben Sie schon mal daran gedacht?«
Er legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. Er war ruhig. Sie nicht. Sie regte sich viel zu sehr auf
über diese kleine Ungereimtheit in ihrer Geschichte. Sie zwang sich, zu entspannen und möglichst unbeteiligt zu schauen.
»Was für andere Fragen haben Sie?«
»Ich habe mich auch gefragt, wie das zeitlich abgelaufen ist. Wie lange ist Ihrer Meinung nach -«
Peng!
»Schüsse!«, schrie Courtney und ließ sich zu Boden fallen.
Kapitel 3
Will sah auf die Frau, die vor ihm flach auf dem Boden lag und die Arme schützend über ihrem Kopf hielt.
»Courtney.« Er beugte sich zu ihr hinab. »Das waren keine Schüsse.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an.
»Was dann? Woher kam dieser Knall?«
Er versuchte, beruhigend zu klingen. »Ich weiß es nicht. Es kam aus der Küche. Aber es war kein Schuss.«
Sie schaute zu seiner Pistole. Er hatte keinerlei Anstalten gemacht, danach zu greifen, so sicher war er, dass keine Gefahr bestand. Das schien sie zu beruhigen. Doch dann errötete sie, und er merkte, dass sie sich schämte. Er bot ihr seine Hand und half ihr auf die Beine.
»Es klang wie eine Explosion.« Sie blinzelte in Richtung Küche. Will vermutete, dass sie nicht realisierte, mit was für einem Schraubstockgriff sie sich an seine Finger klammerte.
»Ich sehe mal nach«, schlug er vor und befreite seine Hand. Sie sah zu Boden und wurde noch röter.
Er trat in die winzige Küche. Ein Besen stand gegen die Theke gelehnt, und auf dem Boden lagen einige Haarlocken. Ihm fiel ein, dass sie in einem schicken
Haarstudio mit so einem italienischen Namen arbeitete. Offenbar verdiente sie sich ein bisschen was dazu.
Mitten in der Küche stand ein Mülleimer voller Flaschen, Gläser und Plastikbehälter. Ganz obenauf lag eine geplatzte Dose mit Teig zum Aufbacken.
»Da haben wir den Schuldigen.« Er hob die Dose auf.
Nun war auch Courtney in die Küche gekommen. Sie war noch immer rot vor Scham.
»Es klang wirklich fast wie ein Schuss«, log er.
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, holte tief Luft und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Tut mir leid.« Sie schloss die Augen. »Mir flattern die Nerven.«
Will nahm ein Glas von der Ablage, ließ Leitungswasser einlaufen und stellte es vor sie auf den Tisch.
Der Besuch brachte mehr Erkenntnisse, als er gehofft hatte. Sie verhielt sich hundertprozentig wie ein Opfer, nicht wie ein Täter. Ihre Geschichte war zwar nicht wasserdicht, aber er wurde sich immer gewisser, dass sie ihren Ex nicht erschossen hatte. Die Schmauchspuren an ihrer Hand konnten auch vom Kampf mit dem Schützen stammen.
Allerdings war es möglich,
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