Der Sucher (German Edition)
ihre Kinder sehen? Nein, nein, nein!
Viel Zeit blieb nicht mehr, sich zu entscheiden. Sie spürte die Erschütterungen im Netz der Welt, wusste, dass Jederfreund versuchte, die alte schreckliche Kraft anzuzapfen, die er bei sich hatte.
»Bring mir Polliak und sag meinem Vater, ich will ihn sprechen!«, befahl ihr Schrillstimme und versuchte, eine Schreibkohle nach ihr zu werfen. Mi‘raela wich elegant aus und huschte davon.
Doch sie schlug nicht die Richtung zur Küche ein, sondern zum Zimmer von Jini. Sie hatte mit ihrer Freundin verschiedene Signale und Treffpunkte vereinbart. Diesmal bat sie ihren alten Freund Cchrtimo, vor ihrer Tür dreimal zu husten. Zum Glück war Jini in ihrem Zimmer.
Kurz darauf erschien sie im Bankettraum, in dem Mi‘raela schon hinter einem schweren Samtvorhang verborgen wartete. Zu zweit war es ein bisschen eng hinter dem Vorhang, außerdem stickig und staubig, aber man konnte in Ruhe ein paar Atemzüge lang reden, wenn man leise war.
»Ich muss noch meine Aufgaben zur Sprachkunde machen«, flüsterte Jini. »Es ist besser, wir treffen uns heute Nacht, da habe ich mehr Zeit!«
Mi‘raela entschied sich. »Heute Nacht bin ich nicht mehr da«, sagte sie.
»Was?!«
»Jederfreund hat einen Fluchtplan. Er hat versprochen, mich mitzunehmen nach draußen. Er denkt, dass es einen Weg gibt.«
Jini quietschte leise vor Freude. »He, das ist ja wunderbar! Beim Nordwind, meinst du, das kann klappen?«
»Ich weiß nicht«, gestand Mi‘raela. »Aber ich muss es versuchen, ich muss.«
Erschöpft ließ Jini den Kopf gegen die Wand des Bankettsaals zurücksinken. »Ach, Mi, ich beneide dich. Ich habe hier drin das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Ein Küchenjunge hat gehört, dass Cyprio mich vergiften will, und mir zum Glück Bescheid gesagt. Jetzt traue ich mich kaum noch, etwas zu essen oder überhaupt aus dem Zimmer zu gehen. Ich habe Angst.«
Zu Recht , dachte Mi‘raela. Sie glaubte sofort, dass an dem Gerücht mit dem Gift etwas dran war. Noch war Jini eine ernsthafte Konkurrentin für Hetta. »Die Regentin wird dich beschützen – oder?«
»Das kann sie nicht«, sagte Jini verzweifelt. »Sie ist Cyprio nicht gewachsen. Er ist viel stärker als sie und hat viel mehr Leute auf seiner Seite.«
Mi‘raela hörte nicht mehr richtig zu. Die Erschütterungen wurden stärker. Unten im Kerker geschah etwas, und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Unwillkürlich sträubte sich ihr Fell.
»Weißt du was, Mi‘raela, ich komme mit!«, sagte Jini, und Mi‘raela hörte die ungeweinten Tränen in ihrer Stimme. »Ich will auch raus hier, um jeden Preis. Ich will raus aus der Burg und endlich meine Schwester wiedersehen! Wann geht es los?«
»Jetzt gleich, fürchte ich«, sagte Mi‘raela, schob den Vorhang beiseite und lief voran in die Tiefen der Burg.
Zum letzten Mal! rief eine Stimme tief in ihr. Zum letzten Mal in einem Speisesaal! Zum letzten Mal einen Befehl von Schrillstimme bekommen! Zum letzten Mal in den Küchen um Essensreste gebettelt! Zum letzten Mal durch diese Steinkorridore gehuscht!
Hoffentlich war es nicht zu schön, um wahr zu sein.
* * *
Einen Moment lang nur verlor ich die Kontrolle. Aber das war ein Moment zu viel. Ein flackerndes blaues Licht erhellte die Zelle, und etwas schleuderte mich zur Seite, hieb mit schrecklicher Gewalt auf die Wände ein. Das Schneehörnchen flitzte hakenschlagend Richtung Tür, hechtete durch das Guckloch. Dicht hinter ihm flutete das unheimliche Etwas durch die Öffnung in der Zellentür und in den Gang. Ich hörte einen furchtbaren Schrei, dann noch einen. Aufgeregte Rufe. Jemand gab Alarm. Rennende Füße im Gang.
Irgendwie schaffte ich es, die Panik zu unterdrücken. Ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich noch einmal wie nie zuvor. Mit letzter Kraft schaffte ich es, den Riss wieder zu schließen. Von einem Moment zum anderen wurde die Kraft von ihrem Ursprung abgeschnitten. Das Wesen war vorerst wieder in die Schale gebannt.
Schlagartig wurde es still.
Durchgeschwitzt und schwer atmend lag ich auf dem Boden der Zelle. Was, beim Brackwasser, war das gewesen? Es war unglaublich mächtig gewesen und unglaublich wütend. Ich konnte froh sein, dass ich noch lebte. Auf einmal konnte ich mir denken, was mit Chisaai geschehen war.
Nach einer Weile kroch das Schneehörnchen zu mir zurück. Es zitterte am ganzen Leib, und als es sich an mich schmiegte, spürte ich sein winziges Herz rasen. Ich tastete mich zu seinen Gedanken
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