Der Sucher (German Edition)
zurück nachhause darf.«
»Was sagt der Händler zu dir?«
»Er spricht kaum mit mir. Niemand spricht mit mir. Aber manchmal lausche ich an der Tür, wenn er mit anderen Leuten redet, die zu Besuch kommen. Dann sagt er oft: Es ist wirklich erstaunlich und sie sieht ganz genauso aus und wann können wir endlich beginnen mit der Übertragung? «
Die Gedanken rasten in meinem Kopf. Aber ich schaffte es, ruhig zu bleiben. »Hast du herausgefunden, wem du ähnlich siehst?«
»Ja. Einem Mädchen im großen Schlafzimmer. Einmal bin ich dort und muss mich neben sie stellen. Sie ist etwa so alt wie ich, aber sie schläft die ganze Zeit und wird blasser und blasser. Kein einziges Mal macht sie die Augen auf, und man hört sie kaum atmen.«
Koma , dachte ich. Der reiche Händler hatte eine Tochter, die im Koma gelegen hatte und dem Tode nahe gewesen war. Vielleicht nach einem Unfall. »Was geschieht dann mit dir?«
»Sie bringen mich in einen Tempel und legen mich neben dem Mädchen auf den Boden. Es ist dunkel und stinkt nach irgendwas Komischem, und Fackeln brennen. Daran, was dann passiert, kann ich mich nicht erinnern. Ich soll einen Kräutersaft trinken und kann nur einen Teil davon heimlich ausspucken.«
Das musste die gleiche Zeremonie gewesen sein, die wir im Tempel von Nehiri beobachtet hatten! Also diente sie zur Übertragung eines Geists auf einen anderen Körper. Ich wagte kaum zu atmen. »Haben sie dich danach anders behandelt?«
»Ja. Als ich aufwache, liege ich in dem Bett, in dem vorher das Mädchen gelegen hat. Sie nennen mich Tilly und sagen, wie furchtbar sie sich freuen, dass es mir endlich besser geht. Das finde ich ziemlich verwirrend. Eine Weile lang bin ich nicht sicher, ob ich wirklich Tilly bin oder jemand anders.«
»Dachtest du, dass du zur Luft-Gilde gehörst?«
»Ja. Das hat man mir gesagt. Man hat mir auch gesagt, was ich gerne mache und esse und anziehe. Diese Sachen gefallen mir zwar nicht immer, aber ich mache es, so gut es geht – dann sind sie nämlich sehr nett zu mir. Aber nach einer Weile freuen sie sich nicht mehr so und sind enttäuscht und sagen, die Übertragung habe nicht richtig geklappt, etwas sei schief gegangen und Tilly sei doch weg.«
Ich konnte mir denken, was geschehen war. Sie hatten sicher festgestellt, dass man einem Menschen der Wasser-Gilde nicht beibringen kann, Wind und Wetter zu beeinflussen. Das ist ein angeborenes Talent, die Formeln dienen nur dazu, es einzusetzen. Und ein Mensch der Luft-Gilde, der diese Fähigkeiten nicht besitzt, wird herablassend behandelt wie ein Behinderter und kann niemals einen Meistergrad erwerben. Das war dann doch keine so tolle Ersatztochter! »Was machen sie dann mit dir?«
»Als ich dann auch noch krank werde, bringen sie mich in die Felsenburg. Dort macht eine Heilerin etwas mit meinen Erinnerungen. Dann lassen sie mich einfach da und reisen wieder ab. An meinen alten Namen erinnere ich mich nicht mehr, deshalb gebe ich mir einen neuen.«
Ich warf einen kurzen Blick auf Joelle. Sie war rot vor unterdrückter Wut, ihre Augen blitzten. Mir selber war nicht viel anders zumute. Wie konnte man einem Kind nur so etwas antun! »Begegnest du in der ganzen Zeit jemandem von der Wasser-Gilde?«
»Ja, als ich in der Burg ankomme. Es war eine sehr hübsche Frau, die dort zu Besuch ist. Ich weiß ihren Namen nicht. Sie fragt Tillys Vater, ob alles geklappt habe und das Kind sich gut eingelebt hätte.«
Hm , dachte ich. Eigenartig! »Woran erinnert du dich sonst noch?«
Tränen rannen über Yneas Gesicht. »Ich habe so Heimweh ...«
Sanft sprach ich die Worte, die das Sondieren beendeten, und ließ meine Hand sinken. Joelle nahm ihre Schwester in die Arme, wischte ihr die Tränen ab. Mi‘raela schmiegte sich eng an beide Mädchen.
Lange schwiegen wir, mussten erst einmal verdauen, was wir gehört hatten. Ein ungutes Gefühl nagte in mir, als ich über das nachdachte, was Ynea gesagt hatte. Diese schöne Frau – könnte das Ujuna gewesen sein, die Hohe Meisterin? Als sie in den Rat der Wasser-Gilde berufen worden war, musste sie zu einem Antrittsbesuch in der Felsenburg gewesen sein. Bedeuteten ihre Worte etwa, dass sie von der Entführung gewusst, sie vielleicht sogar gefördert hatte, aus welchem Grund auch immer? Vielleicht hatte sie als Gegenleistung Handelsvorteile beansprucht.
Verdammt! Das warf ein ganz neues Licht auf die Sache mit Targons Schale, und zwar kein gutes. War das die verborgene Wahrheit hinter dieser
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