Der Täter / Psychothriller
Wirklichkeit zu sehen, könne er nicht jeden Zweifel ausschließen, doch er sei ziemlich sicher, dass das der Mann sei. Wir müssen nur unbedingt darauf achten, den alten Kerl von seiner Frau fernzuhalten. Er ist es offenbar gewöhnt, dass sie ihm sagt, was er zu denken hat, und sie gibt zu allem ihren Senf dazu.«
»Zu allem?«
»Glauben Sie mir, zu allem.«
»Ergo?«
»Ergo sehe ich nicht das Problem. Falls es denn eins gibt.«
»Wo stehen wir demnach?«
Walter Robinson grinste. »Eigentlich sitzen wir, genau hier, bei einem Glas Wein. Mögen Sie noch eins?«
Espy Martinez nickte. Sie sah ihm dabei zu, wie er ihr einschenkte, dann trank sie einen Schluck und ließ den kühlen, fruchtigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Sie blickte über die Bucht und stellte fest, dass sie sich fühlte, als würde sie sich nach Sonnenuntergang in die Wellen stürzen.
»Walter, verraten Sie mir, wer Sie sind?«
Er lächelte. »Wer ich bin? Ich bin ein Detective bei der Polizei, der kurz vor seinem Juraabschluss steht …«
Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Nein, nicht, was Sie sind, sondern wer.«
Robinson hörte den Ernst ihrer Frage heraus und wurde sich plötzlich bewusst, dass sie mehr von ihm wissen wollte, als er erwartet hatte. Einen Moment lang war es ihm unangenehm, doch bevor er es sich anders überlegen konnte, fing er langsam und leise, fast wie bei einem konspirativen Treffen, an zu erzählen.
»Ich schwimme«, berichtete er und deutete mit der Hand auf die Bucht. »Ich schwimme allein, wenn niemand zuschaut, ziemlich weit ins Tiefe, mindestens eine Meile vom Strand weg. Manchmal zwei.«
An dieser Stelle hielt er inne und verschwieg, was er so gerne tat: am frühen Abend, wenn sämtliche purpurrot gebrannten Touristen und die bierseligen Teenager schon ihr Picknick eingepackt hatten, um möglichst vor dem ersten Schatten zu Hause zu sein, bis ans äußerste Ende von Key Biscayne zu fahren. Dann glitt er ins Wasser und kraulte gegen die Wellen an, vorbei an den rot-weißen Baken, vorbei an allen sonstigen Begrenzungen, bis der Sog der Gezeiten seine Arme und Beine zu erfassen drohte. Dort drehte er um und starrte, während er Wasser trat, zur Stadt mit ihren Wohnblocks zurück oder auch an dem verlassenen alten Ziegelleuchtturm vorbei zu der Stelle, an der die Bucht ins offene Meer übergeht. Er wiegte sich auf den Wellen, die sich trügerisch harmlos gaben, obwohl er ihre Tücke kannte. Nach einer Weile holte er dann tief Luft und kämpfte erneut gegen die Strömung und die Gezeiten an, wich gelegentlich einer Portugiesischen Galeere mit ihrem tödlichen Gift aus, ignorierte die Gefahr von Haien, überwand die nicht minder tödliche Gefahr der Erschöpfung, bis er sich mit letzter Kraft an den Strand zurückschleppte und schwer keuchend einmal wieder davongekommen war.
»Wieso schwimmen Sie?«, fragte sie leise.
»Weil in meiner Kindheit und Jugend keins von den schwarzen Kindern schwimmen lernte. Es gab bei uns keine Pools, und bis zum Strand hätte man mit dem Bus dreimal umsteigen müssen. Wir leben im wasserreichsten County von ganz Amerika – wussten Sie das? –, aber wir konnten nicht schwimmen. Ich weiß noch, wie fast jedes Jahr in der Zeitung stand, dass irgendein schwarzes Kind in einem Kanal ertrunken sei, vielleicht beim Angeln oder beim Fangen von Fröschen oder einfach nur beim Spielen. Rutscht aus, fällt ins knapp über einen Meter tiefe Wasser, gerät in Panik, strampelt und schreit um Hilfe, aber nie ist jemand in der Nähe, also ertrinkt es. Die weißen Kinder sind nie ertrunken. Die hatten Pools hinterm Haus, und man hat es ihnen beigebracht. Brustschwimmen. Kraulen. Seitenschwimmen und Butterfly. Schlimmstenfalls wurden sie ausgeschimpft, wenn sie nass und triefend ins Haus kamen und eine Wasserspur hinterließen.«
Er stellte das Glas Wein ab.
»Ich klinge wütend. Das wollte ich nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr wurde bewusst, dass sie etwas Wichtiges erfahren hatte, fast so etwas wie einen versteckten Hinweis in einem Krimi, auch wenn sie erst später verstehen würde, wieso es wichtig war.
»Nein«, meinte sie. »Das macht es mir leichter.«
»Leichter? Was?«
Sie antwortete nicht. Doch sie dachte: Zu verstehen, was passieren wird.
»Also, Espy, jetzt habe ich eine Frage an Sie«, sagte Robinson, nachdem eine Weile Schweigen geherrscht hatte.
»Nur zu, schießen Sie los«, forderte sie ihn in unbeschwertem Ton auf. »Vielleicht ist die Wortwahl für
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