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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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noch deutlicher zu sehen. Das war der Preis für Einsätze an Schreckensorten. Würde er morgen früh von Stan Millers Leichnam träumen? Wie sehr würde es ihn überraschen zu erfahren, dass auch mich genau dieser Albtraum quälte?
    «Schlimme Nacht», sagte ich, meine Konsole im Rücken.
    «Immerhin keine sonstigen Notrufe», entgegnete Officer Mackereth.
    «War ziemlich ruhig.»
    «Gut so. Wir hatten alle Einsatzkräfte in Red Groves.»
    «Wie sieht’s aus in Red Groves?» Ich starrte jetzt wieder auf meinen Monitor, als erwartete ich eine Nachricht.
    Tom zuckte mit den Achseln. «Die Unfallstelle ist abgesichert. Die Leiche wurde weggeschafft. Die Nachbarn sind wütend und haben Angst. Das Übliche halt.»
    «Gibt es Augenzeugen?», fragte ich. Beiläufig.
    «Nur drei oder vier Dutzend …»
    «Im Ernst?»
    Officer Mackereth stieß einen Schwall Luft aus und richtete sich auf. «Wir hatten so viele Gaffer, von denen jeder was anderes sagt, wer soll da noch durchblicken? Manche behaupten, das Opfer habe seine Frau beschimpft und sei auf die Feuertreppe rausgetrampelt, die dann unter ihm zusammenbrach. Andere wollen eine Schießerei gehört haben, vielleicht zwischen Dealern oder russischen Mafiosi …»
    «Russischen Mafiosi?»
    «Unwahrscheinlich. Aber in der Wohnung des Opfers ist tatsächlich geschossen worden. Einschusslöcher überall. Wir suchen noch nach dem Rest der Familie. Nach einer Frau und zwei Kindern. Ein Nachbar sah sie am frühen Abend das Haus verlassen. Wollen wir für die drei hoffen, dass das stimmt.»
    «Oh.» Etwas anderes fiel mir nicht ein.
    «Nicht schön, so zu sterben.» Tom wippte auf seinen Hacken. «So was habe ich noch nicht gesehen. Stürzt fünf Stockwerke tief und landet in einem Bett aus Eisenstangen.»
    Er schien mir etwas anzusehen und fügte hastig hinzu: «Tut mir leid. Ich wollte nicht … Berufskrankheit. Cops vergessen manchmal, dass es auch Leute gibt, die zarter besaitet sind.»
    «Schon gut», murmelte ich. «Mir kommt auch so manches zu Ohren.»
    «Das ist was anderes. Hören ist leichter zu verpacken als sehen.»
    «Wirklich? Lässt es der Phantasie nicht viel mehr Raum? Vor allem dann, wenn man wie ich das Ende der Geschichte nie erfährt. Ich höre Schreierei, Gebrüll und Schluchzen, und gleich darauf ist der Nächste in der Leitung. Tja.»
    Officer Mackereth wiegte den Kopf, als dächte er zum ersten Mal über die Arbeit einer Telefonistin in der Notrufzentrale nach. «Haben Sie heute schon jemandem weiterhelfen können?», fragte er unvermittelt.
    «Noch nicht.»
    «Einen Streit geschlichtet?»
    «Noch nicht.»
    «Charlene Grant lässt es zur Abwechslung mal langsam angehen, oder?»
    «Charlene Rosalind Carter Grant», korrigierte ich automatisch.
    «Auf Ihrem Führerschein steht was anderes.»
    Mein Kinn ging in die Höhe. Ich musterte ihn. «Im Antragsformular war kein Platz für zwei Mittelnamen.»
    «Warum haben Sie die?»
    «Keine Ahnung.»
    «Familiennamen?»
    «Vielleicht.»
    «Haben Sie Ihre Eltern nie gefragt?»
    «Wenn ich wüsste, wo sie sind, hätte ich sie vielleicht gefragt», erwiderte ich steif.
    Er stutzte, nickte wieder und betrachtete mich noch intensiver. Wir tanzten miteinander. Immer im Kreis herum. Allerdings konnte ich nicht unterscheiden: Waren wir Partner auf einer Tanzfläche oder Gegner im Ring?
    «Ich habe Ihren Namen zu googeln versucht», sagte er jetzt.
    «Was gefunden?»
    «Es gibt jede Menge Charlene Grants.»
    «Vielleicht habe ich deshalb zwei Mittelnamen.»
    «Sie haben keine zwei Mittelnamen.»
    «Doch, habe ich.»
    «Nicht laut Ihrer Geburtsurkunde.»
    «Sie haben sich für meine Geburtsurkunde interessiert?»
    «Wo hätte ich mich sonst erkundigen sollen, wenn googeln nicht weiterhilft?»
    Mir fehlten die Worte. Ich blinzelte. Tulip, die zwischen uns saß, winselte leise.
    «Was wollen Sie?», fragte ich endlich. Der Rand des Schreibtischs drückte von hinten auf meine Oberschenkel, was mich plötzlich störte. Ich zwang mich zu einem Schritt nach vorn. Kein Zurückweichen mehr. Den eigenen Raum behaupten. Kontrolle über die Situation gewinnen.
    «Ihre E-Mail-Adresse», antwortete Officer Mackereth.
    «Ich habe keine.»
    «Bei Facebook angemeldet? Twittern Sie? MySpace?»
    «Ich habe nicht mal einen Computer.»
    «Smartphone?»
    «Weder das noch iPad, iPod, E-Reader oder DVD-Player.»
    «Also nicht von dieser Welt», bemerkte Officer Mackereth.
    «Wenn ich online sein will, gehe ich in die Bibliothek. Ein gutes Buch

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