Der Tag der Traeume
bleiben; ihm eine derartige Bemerkung vorwegnehmen. »Geh schon vor. Ich springe unter die Dusche und komme in zehn Minuten nach, okay?«
Sie nickte. »Wenn du meinst.«
Ihre Stimme verriet ihre Unsicherheit. Egal wie oft er ihr versicherte, er werde sie nicht im Stich lassen, sie wartete trotzdem darauf, dass er genau das tat. Die Ironie der Situation entging ihm nicht. Immerhin war sie diejenige, die fortgehen und ihn hier zurücklassen wollte. »Sieh mich an.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ich komme nach.« Dann gab er ihr einen raschen Kuss. »Und jetzt ab mit dir.«
Kendall lächelte ihm zu und stürmte zur Tür. Das Geräusch ihrer Schritte wurde leiser und leiser und verklang schließlich.
Unwillkürlich musste er an Jillian denken.
Rick begann, ruhelos in seinem Apartment auf- und abzutigern, während er versuchte, Kendalls Lage mit der von Jillian zu vergleichen. Kendall hatte nie Eltern gehabt, auf die sie sich verlassen konnte. War von Stadt zu Stadt, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden, hatte nie Menschen gehabt, die ihr nah standen, auch keine engen Freundschaften schließen können. Und dann landete sie in einer Kleinstadt, wo die meisten Menschen das waren, was sie zu sein schienen. Wo ihr Freundschaft ohne Hintergedanken angeboten wurde und ihr die Vorstellung, letztendlich doch sesshaft zu werden, immer verlockender vorkam – nur wagte sie nicht, nach etwas zu greifen, was sie nie besessen hatte.
Er selbst war in einer intakten Familie aufgewachsen, hatte geheiratet und sich wieder scheiden lassen, und doch plagte ihm die Angst davor, erneut verletzt zu werden. Wie konnte er es Kendall verübeln, dass sie genauso dachte?
Kendall betrat Norman’s und sah Hannah mit Lisa Burton in einer Ecke sitzen. Als sie auf die beiden zuging, starrte Hannah sie aufmüpfig an, doch statt sie in Gegenwart der anderen Frau zurechtzuweisen beschloss Kendall, es diesmal mit Takt und Diplomatie zu versuchen.
Zuerst nickte sie Lisa zu. »Danke, dass Sie Hannah hierher gebracht haben.«
»Mir blieb ja nichts anderes übrig, Ms. Sutton. Sie war unbeaufsichtigt, und sie hatte dem Direktor schon einen Eimer Wasser über den Kopf gekippt.«
Kendall zuckte zusammen.
»Ich konnte nicht zulassen, dass sie noch mehr Ärger macht, und Sie waren ja nirgendwo zu finden.«
Kendalls Augen wurden schmal. Sie hatte ja nur Ricks Anteil an dem Telefongespräch mitgehört, nicht Lisas, und sie wusste nicht, warum sein Freund Jonesy so plötzlich verschwunden war, aber sie nahm an, dass er einen guten Grund gehabt und auch dafür gesorgt hatte, dass sich jemand um Hannah kümmerte. Wenn sie Rick Glauben schenken durfte, beruhte Lisas Verhalten auf purer Eifersucht, und Kendall wollte ihr nicht den Triumph gönnen, sich ihre Gefühle anmerken zu lassen.
»Hey, machen Sie meine Schwester nicht an, Miss«, giftete Hannah, bevor Kendall eine unverfängliche Antwort eingefallen war.
Diese runzelte verblüfft die Stirn. Hannah war tatsächlich für sie eingetreten! Trotz des unverschämten Tons, den ihre Schwester an den Tag legte, wurde Kendall von einer Welle von Stolz und Zuneigung erfasst. Und obwohl Hannah sowohl für ihre freche Bemerkung als auch für die Sache mit dem Wasser eine Abreibung verdiente, wollte sie die erste schüchterne Annäherung zwischen ihnen nicht wieder aufs Spiel setzen, indem sie ihr in Gegenwart einer Lehrerin – noch dazu einer wie Lisa Burton – eine Strafpredigt hielt.
»Hannah …«, begann sie vorsichtig, doch ihre Schwester achtete gar nicht auf sie, sondern funkelte Lisa aus mit dunklem, nach einem Tag in der Sonne ziemlich zerlaufenem Eyeliner umrandeten Augen böse an.
»Ich habe selbst gehört, wie Sie zu Officer Rick gesagt haben, Sie würden ihm mit Freuden jeden Gefallen tun«, zischte sie dann.
Die Betonung, die Hannah auf das Wort jeden legte, entging Kendall ebenso wenig wie der angewiderte Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Schwester.
»Lauschen ist ungezogen«, tadelte Lisa sie in einem oberlehrerhaften Ton.
»Und warum haben Sie dann den ganzen Tag lang nichts anderes gemacht? Sie sind Rick überallhin nachgestiegen, und wenn er mit jemandem gesprochen hat, haben Sie lange Ohren gemacht. Wie nennen Sie das denn?« Hannah verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust, während sie auf eine Antwort wartete.
Flammende Röte überzog Lisas Wangen. »Das Mädchen braucht wirklich dringend eine feste Hand«, stieß sie hervor, obwohl man ihr
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