Der Teufel in dir: Thriller (German Edition)
Namensschild aus Plastik stand S ANDI .
»Ist es noch immer so kalt?«, fragte sie.
»Bitterkalt.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Pfarrer Leone besuchen. Zimmer 303.«
Die Frau starrte ihn an, ohne etwas zu erwidern.
»Pfarrer Leone«, wiederholte Byrne. »Pfarrer Thomas Leone.«
Die Frau sagte noch immer nichts. Stattdessen machte sie sich daran, die Ecken des Briefumschlags zu knicken, den sie in der Hand hielt.
»Ein alter Mann«, sagte Byrne. »Eine Mischung aus Spencer Tracy und Methusalem.«
»Sind Sie ein Angehöriger?«
Seltsame Frage, dachte Byrne, aber sie klang gefährlich. »Nein, ein Freund.«
»Pfarrer Leone ist in der vergangenen Nacht verstorben.«
Die Worte trafen Byrne wie ein Schlag. Ja, der Mann war schon in den Neunzigern gewesen und sehr gebrechlich. Er musste jeden Tag ein Dutzend Tabletten schlucken und war an ein Sauerstoffgerät angeschlossen. Dennoch war Byrne wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte geglaubt, Pfarrer Leone würde ewig leben. Alle Pfarrer würden ewig leben.
»Ich war erst vor wenigen Tagen hier. Ich hatte den Eindruck, es ginge ihm gut.«
»Es ist in der Nacht passiert. Als ich um sechs Uhr gekommen bin, war er bereits tot«, sagte die Frau. »Woran genau er gestorben ist, weiß ich nicht. Er hat keine Geschwister mehr, daher glaube ich nicht, dass jemand eine Autopsie anordnen wird.«
Plötzlich fühlte Byrne sich vollkommen leer, als wäre ihm seine ganze Kindheit entrissen worden. Die Erinnerungen an die Zeit in der St. Gedeon Church stiegen in ihm auf, die guten und die schlechten. Und auf alles fiel der Schatten von Pfarrer Thomas Leone mit den schmalen Schultern in der billigen Strickjacke. Dieses Bild würde er so schnell nicht vergessen.
»Wenn Sie möchten, können Sie im Leichenschauhaus anrufen«, sagte die Frau, zog einen Stift aus einem Becher und nahm einen Block zur Hand. »Dort befindet sich auch die Rechtsmedizin. Wenn der Leichnam im Laufe des Tages dorthin gebracht wird, können Sie bestimmt …«
»Ich bin Polizist«, sagte Byrne mit mehr Nachdruck, als er beabsichtigt hatte. Er bedauerte es sofort und schlug einen freundlicheren Tonfall an. »Ich arbeite als Detective in der Stadt.«
»Sie sind nicht zufällig Mr. Byrne?«, fragte die Frau.
»Doch, der bin ich.«
»Detective Kevin Byrne?«
»Ja.« Byrne hatte keine Ahnung, warum sie fragte. Er hatte nur den Wunsch, diesen Ort der Krankheiten, des hohen Alters und der Gebrechlichkeit so schnell wie möglich zu verlassen und so viele Meilen wie möglich zwischen sich und den Gedanken an langsames Siechtum zu bringen.
»Er hat einen Umschlag für Sie hinterlassen.«
»Pfarrer Leone?«
»Ja. Er lag auf seinem Nachttisch und war an Sie adressiert.«
»Und wo ist der Umschlag jetzt?«
»Eine unserer ehrenamtlichen Helferinnen hat eine Verabredung in der Nähe des Roundhouse, da habe ich ihr den Umschlag mitgegeben. Ich wusste ja nicht, dass Sie kommen.«
»Wissen Sie, was darin ist?«
Die Frau schaute ihn beleidigt an, trat einen Schritt zurück und schickte sich an, die Arme zu verschränken. In letzter Sekunde überlegte sie es sich anders und strich über ihren Arbeitskittel mit dem bunten Blumenmuster. »Nein«, sagte sie und schaute Byrne in die Augen. »Ich habe ihn nicht geöffnet. Er war nicht an mich adressiert.«
»Tut mir leid«, sagte Byrne. »Ich habe nicht nachgedacht.«
Die Frau entspannte sich.
»Und er wurde noch nicht ins Leichenschauhaus gebracht?«
»Nein, noch nicht.«
»Dürfte ich ihn noch einmal sehen?«, fragte Byrne. »Nur um …«
Um mich zu verabschieden, wollte er sagen, doch aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, die Worte auszusprechen. Er war schon lange nicht mehr so ergriffen gewesen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte.
»Ja, natürlich.« Sandi nahm den Hörer ab. »Ich rufe einen Kollegen, der zeigt Ihnen den Weg.«
»Danke«, sagte Byrne. »Es wird nicht lange dauern.«
»Lassen Sie sich Zeit. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
*
Der Raum befand sich im Erdgeschoss auf der Gebäuderückseite. Byrne trat ein und schloss die Tür hinter sich. Bis auf ein schlichtes Kruzifix aus Holz über dem Bett waren die Wände kahl.
Der Leichnam unter dem Laken sah erschreckend klein aus. Wie war das möglich? Pfarrer Thomas Angelo Leone war ein Mann, der Hunderten, wenn nicht Tausenden von Kindern in Süd-Philadelphia Angst und die Ehrfurcht vor Gott eingeimpft hatte. Er hatte den Kindern und Jugendlichen nicht nur beigebracht,
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