Der Teufel von Garmisch
Qualität der Fragen, die
Selbach stellte. Er hatte ein tiefgehendes Gespür für systemische
Zusammenhänge. Das war etwas, das man nicht lernen konnte, sondern ein Talent.
Sebastian schätzte das sehr, und es war, wie er an jedem Arbeitstag leidvoll
aufs Neue erfahren musste, sehr ungleich verteilt. Er hatte für sich die
»Hansi-Fellerer-Skala« erstellt, mit der er dieses Talent bei seinen Kollegen
bemaß. Hansi Fellerer stand hier für den absoluten Nullpunkt.
Selbach lag bisher bei neunzig Prozent.
»Wo haben Sie eigentlich zuletzt gearbeitet?«, fragte Sebastian.
»Ich war eine Zeit lang Freelancer. Es gibt ja immer wieder
projektbezogene Jobs, die dann nur ein paar Monate dauern. Zuletzt war ich bei
Geeky-Electronics. Sagt Ihnen wahrscheinlich nichts …«
»Doch, die machen Audiosysteme«, sagte Sebastian.
»Richtig, aber nicht nur. Schwierige Firma. Die wissen nicht, was
sie wollen. Auf der einen Seite High-End-Studioprodukte und auf der andern
Seite Billigkram und Spielereien für die Discounterebene. Ich hab ihnen
geraten, sich aufzusplitten. Da haben sie mich gefeuert. Jetzt sind sie
insolvent.« Selbach zuckte die Achseln. »Ain’t my cup of
meat.«
»Sie meinen tea «, sagte Sebastian.
»Meat« , sagte Selbach. »Bob Dylan. ›Mighty
Quinn‹.«
»›Mighty Quinn‹? Ist das nicht von Manfred Mann?«, fragte Sebastian.
Selbach schüttelte lachend den Kopf. »Schade. Leider haben wir jetzt
keine Zeit, sonst würde ich Ihnen eine kurze Einführung in die wunderbare Welt
der Dylanologen geben.«
Sebastian fragte lieber nicht nach. Sie hatten im Englischgrundkurs
mal »Blowin’ in the Wind« besprochen, das war sein engster Kontakt zu Dylan
gewesen, und es war lange her. Er zeigte wieder auf den Bildschirm.
»Die WWS -Schnittstelle«, sagte er.
Aber Selbach blieb zurückgelehnt in seinem Stuhl sitzen. »Wie kommt
Frau Öckler eigentlich darauf, dass Sie an der Entwicklung der Software
beteiligt waren?«, fragte er.
»Ich hatte ein paar Ideen, die Dr. Lerchl ganz brauchbar fand.«
Sebastian fragte sich, wieso Selbach gerade jetzt darauf kam.
»Sind Sie beteiligt?«
»Beteiligt? Woran?«
»Na, am Lizenzgeschäft. Das Programm soll doch vermarktet werden.«
Sebastian sah Selbach verständnislos an. »Das Programm wird
vermarktet? Ich dachte, es wäre unser … wie nennt der Vertrieb das immer? … unique selling point ?«
»Oh, hat Dr. Lerchl das noch gar nicht bekannt gemacht?
Mittelfristig soll das mein Hauptarbeitsfeld werden. Spricht ja auch nichts
dagegen. Man kann mit Sicherheit mehr daran verdienen, wenn man es verkauft,
als wenn man es nur benutzt. Wie viel Prozent haben Sie denn vereinbart?«
Sebastian hatte über so etwas nie nachgedacht. »Wir haben noch nicht
drüber gesprochen«, sagte er zögernd.
»Das sollten Sie aber. Da steckt eine Menge Geld drin. Und diese
Layer-Verknüpfung ist doch das zentrale Ding an dem Programm. Der Rest ist nur
Standard.«
Sebastian schwirrte der Kopf. Klar, jetzt wo Selbach danach fragte,
leuchtete es ihm sofort ein. Ideen, die in der Firma verwendet wurden, waren
das eine. Aber wenn seine Ideen verkauft wurden, sollte er eigentlich irgendwie
beteiligt werden.
Aber leider hatte er gerade überhaupt keine Kapazitäten für so
etwas.
»Lassen Sie uns weitermachen«, sagte er.
»Schon recht«, sagte Selbach. »Aber passen Sie auf, dass Sie nicht
über den Tisch gezogen werden.«
* * *
Dräger stand neben der Leinwand, auf die er mit seinem Laptop
die Bilder vom Tatort projizierte. Schwemmer, Schafmann, sieben weitere
Kollegen und Staatsanwältin Isenwald saßen an den u-förmig aufgestellten
Tischen. Jeder hatte einen Block oder eine Kladde vor sich, die sich nach und
nach mit Notizen füllten. Vor Schafmann stand ein aufgeklappter Laptop,
Isenwald hatte ihr iPad auf dem Tisch liegen.
Dräger zeigte zahlreiche Fotos der beiden Leichen. Nahaufnahmen des
Gesichts von Susanne Berghofer oder dem, was davon übrig war. Die beiden
Teufelshörner, die der Täter aus ihren blutverschmierten Haaren geformt hatte.
Dann das leere Bett. Markierte Fundorte von Haaren und eingetrockneten Flecken
von Körperflüssigkeiten.
»Man müsste wissen, wann das Bett das letzte Mal frisch bezogen
worden ist«, sagte Schafmann.
»Das ist natürlich schwer zu sagen«, sagte Dräger. »Wir müssen die DNS -Analysen abwarten. Ich hoffe, es sind nicht so
viele wie Fingerabdrücke.«
»Wie viele sind das?«
»Insgesamt sechs verschiedene. Alle unbekannt.
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