Der Tod des Bunny Munro
Daumen auf seine Brust und sagt: »Ich.«
Bunny steigt aus dem Punto und beugt sich noch einmal zur offenen Tür hinein.
»Ich bin bald zurück. Bleib im Auto«, sagt er und wirft die Tür zu.
Bunny Junior sieht sich nervös um und denkt: ›Einem Neunjährigen wird ja keiner was tun, schon gar nicht, wenn er eine Sonnenbrille aufhat‹, rutscht aber vorsichtshalber noch ein Stück tiefer in seinen Sitz und beobachtet über die Gummilippe des Fensters hinweg, wie sich sein Vater den Jugendlichen auf der Bank nähert, auf deren Konto wahrscheinlich Dutzende bestialische Morde gehen und die bestimmt andauernd Geschlechtsverkehr haben.
»Weiß irgendeiner von euch, wo die Wohnung Nummer fünfundneunzig ist?«, fragt Bunny.
Der Typ in der Mitte – auch wenn sich Bunny nicht ganz sicher ist – zischt »Verpiss dich« und macht mit der Hand unbewusst eine Art Mos-Def-Welle, nur mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Bunny lächelt respektvoll. »Ja, okay, schon klar, aber meint ihr, die Fünfundneunzig ist in dem Block da?« Er zeigt nach Westen. »Oder eher in dem?« Er zeigt nach Osten.
Die Jungs ziehen an ihren Zigaretten, und aus dem Dunkel jeder Kapuze strömt ein Schwall Nasenlochrauch. Obwohl keiner etwas sagt, macht sich ein allgemeines Hochfahren der Gewaltbereitschaft bemerkbar, die drei Jungs richten sich in den riesigen Comic-Klamotten neu aus. Der Mittlere wirbelt eine Spuckekugel in die Luft, die vor Bunnys Füßen auf den Boden klatscht.
Bunny tritt einen Schritt näher und sieht ihn an.
»Weißt du, woran du mich erinnerst, Bruder?«
»Woran denn, Opa?«
»An eine Klitoris.«
»Eine was?«
»Ich glaub, wegen der Kapuze.«
Bunny dreht sich um und geht auf das erstbeste Gebäude zu. Eine glühende Zigarettenkippe fliegt knapp an seinem Ohr vorbei, und ohne sich umzudrehen ruft er: »Diese Dinger bringen euch ins Grab! Ihr kriegt Krebs und verreckt!«
An der Treppe des Gebäudes angelangt, wedelt er theatralisch mit den Armen, als müsste er die ganze Welt beschallen, und brüllt: »Überlegt nur mal, was das für ein Riesenverlust für die Menschheit wäre!«
Dann verschwindet Bunny in der sonnenlosen Vorhalle des Treppenhauses. Er hüpft über ein Kondom voll toter Teenie-Wichse, das inmitten von all dem Müll liegt, der sich um die Treppenstufen herum angesammelt hat. Er geht die Treppe hoch, der beißende chemische Geruch von Bleiche und Urin schlägt ihm ins Gesicht wie eine Ohrfeige, und aus irgendeinem Grund muss er auf einmal an die sexy-surreale Dichotomie zwischen Pamela Andersons pelzigen Ugg-Boots und ihrer (fast) kahl rasierten Pussy denken. Als er oben ankommt, herrscht in seiner Hose Tipi-Alarmstufe Rot. Zu seiner Verblüffung steht er wie durch ein Wunder genau vor der Tür von Nummer 95. Er dreht sich um, schaut über den Balkon und konzentriert sich auf das Milchstraßenmuster aus Möwenscheiße auf dem Dach des Punto, bis seine Erektion nachlässt.
Die Jugendlichen sind weg, und da, wo sie saßen, hockt jetzt ein Fettsack in einem Blumenkleid, knurrt wie ein Tier und kratzt das Preisschildchen von etwas ab, das wie eine große Orchidee im Topf aussieht.
Irgendwo in den Randbezirken seines Bewusstseins hofft Bunny, dass Bunny Junior das Auto von innen verriegelt hat. Dann dreht er sich um und klopft an die Tür von Nr. 95.
Bunny Junior schlägt seine Enzyklopädie bei ›M‹ auf und liest etwas über die Insektenfamilie der Mantidae und deren bekannteste Vertreterin, die Gottesanbeterin, ein großes Insekt mit gut getarntem Körper, einem beweglichen Kopf und großen Augen. Er liest, dass das Weibchen das Männchen während der Paarung mit dem Kopf voran auffrisst, dann schlägt er ›Paarung‹ nach und denkt ›Wow, das ist ja ein Ding‹. Er überträgt diese Information in sein Gedächtnis, wo er sie in einen virtuellen Kasten mit Farbkodierung einsortiert, den er in ein Regal seiner geistigen Datenbank schiebt. Er hat Hunderte solcher Kästen, zwischen denen die verschiedensten Verbindungen bestehen und die er jederzeit nach Belieben aufziehen kann. Man kann ihn nach der Luftschlacht um England oder nach dem Gescheckten Nagekäfer fragen (auch Totenuhr genannt), und er weiß sofort Bescheid. Wenn man etwas über die Galapagos-Inseln oder den Heimlich-Handgriff wissen will, ist man bei Bunny Junior an der richtigen Adresse. Das ist ihm einfach angeboren.
Aber während er zusammengesunken auf dem Beifahrersitz des Punto sitzt, beunruhigen ihn zwei Dinge.
Das Erste ist,
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