Der Tod des Bunny Munro
dass seine Mutter ihm immer mehr entgleitet, wenn er sie sich vorzustellen versucht. Er weiß, in welchem Jahr der Eiffelturm gebaut wurde, aber es fällt ihm immer schwerer, sich daran zu erinnern, wie seine Mutter aussah. Das macht ihm zu schaffen. Er versucht, die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse zu arrangieren wie Ausstellungsstücke, erstarrt in der Zeit wie die ausgestopften Vögel in den Vitrinen des weltberühmten Booth-Museums. Er ordnet sie in seinem Gedächtnis, als wären es Wachsfiguren oder so was. Aber das Bild seiner Mutter verliert sich, und wenn er zum Beispiel auf den Tag zurückblickt, als er auf dem Spielplatz der St. Ann’s Well Gardens auf der Schaukel saß und seine Mutter ihn anschubste, sieht er sich selbst, wie er hoch in die Luft fliegt, mit den Beinen Schwung nimmt und über das ganze Gesicht lacht – aber wer schubst ihn an? Eine allmählich verblassende Geisterfrau, bruchstückhaft wie ein Hologramm. In diesem Moment fühlt er sich, als wäre er für immer auf der Schaukel gefangen, hoch oben in der Luft, jenseits von menschlichem Kontakt und Einfluss – mutterlos, und als er aufgehört hat zu weinen und die Tränen mit dem Hemdsärmel abgewischt sind, beunruhigt ihn die andere Sache.
Auf der Bank, wo die jugendlichen Straftäter gesessen haben, sitzt jetzt ein fetter Typ und spielt mit einer Topfpflanze. Er trägt eine lila Perücke. Ab und zu hebt er den Kopf, sieht den Jungen an und gibt ein Geräusch wie ein Monster von sich – ein Werwolf vielleicht oder ein Höllenhund oder so. Das macht Bunny Junior Angst, und er drückt heimlich das Verriegelungsknöpfchen an der Autotür. Dabei sieht er rüber zum Eingang der Außentreppe, in dem sein Vater verschwunden ist, und dort steht, mit dem Rücken zu ihm und halb im Schatten, eine blonde Frau in einem orangefarbenen Nachthemd. Bunny Junior legt die Hände vors Gesicht, und vor seinen Augen tritt die Frau weiter in den Schatten oder verschwindet, entmaterialisiert sich oder wird atomisiert oder irgendwas, er kann sich nicht entscheiden.
14
»Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben«, sagt Bunny, dessen ölige Haarspirale – seine Schmalzlocke – sich verlockend leger auf seiner Stirn ringelt. »Zoë, für Sie habe ich mir die revitalisierende Handcreme mit Elastin, die Gesichtsmasken mit Mandelöl, Honig, Milch und Aloe vera, die Phytocitrus-Haarkur, die hautstraffende Re-Nutriv-Creme und das marokkanische Rosenbadeöl vorgemerkt, ein wunderbares Produkt übrigens, wie ich von den Damen immer wieder höre …«
Bunny sitzt mit drei Frauen um die 35 in einer sauberen und ordentlichen Küche um einen runden Tisch herum. Zoë trägt eine Jogginghose aus schokobraunem Samt und ein T-Shirt von LA Fitness an der North Road. Sie ist groß, hat kastanienbraunes Haar und dunkelbraune Augen, und auf die Innenseite ihres Handgelenks ist ein kleiner pinkfarbener Schmetterling tätowiert. Abgefahren, denkt Bunny, während er sich ihr zuneigt und sein Bestellformular vorliest. Flüchtig bemerkt er, dass die Kristallschneeflocken an ihren Ohren unvorteilhafte Lichtreflexe auf die Unterseite ihres Kiefers werfen.
Amanda dagegen ist klein und erinnert Bunny an Kylie Minogue, nur dass sie mit ihrem Wust von bonbonfarbenen Haar-Extensions wie ein Kobold aussieht und riesige Brüste, superschmale Hüften und praktisch keinen Arsch hat. Sie trägt die gleiche schokobraune Jogginghose wie Zoë und wippt ein Baby auf dem Schoß, das glucksend auf Dinge zeigt, die nicht da sind oder doch da, aber für alle anderen unsichtbar.
Georgia, in deren Wohnung sie sitzen, trägt ein pfirsichfarbenes T-Shirt mit einem metallic-silbernen Aufdruck, der wohl einen Pilz darstellen soll, dazu Bluejeans und farblich passende Denim-Espadrilles. Sie hat violette Augen und ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, und obwohl jede der Frauen so aufgedunsen und großmütig aussieht, wie frischgebackene Mütter nun mal aussehen, spricht aus Georgias Miene ein gewisser Hang zum Spiel mit dem Feuer, und sie kichert hell und nervös.
Zoë deutet auf das Bestellformular. »Wenn mich das nicht wieder in Form bringt, dann weiß ich’s auch nicht!«
Die kleine Amanda hat ein breites, kehliges Lachen, während das Lachen der großen Georgia wie das Klingeln kleiner Glöckchen klingt. Diese eigenartige Kombination amüsiert Bunny irgendwie, und seine Grübchen kommen zum Vorschein. Er wendet seine Aufmerksamkeit Amanda zu und tippt mit dem Zeigefinger auf ihr
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