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Der Tod des Maerchenprinzen

Der Tod des Maerchenprinzen

Titel: Der Tod des Maerchenprinzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svende Merian
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Maul» schreien!) Aber heute kann ich nicht mehr. Auch wenn ich mir vorgenommen habe, auf jede verbale Anmache mit Anschreien zu reagieren. Ich habe keine Kraft mehr. Heute abend nicht. Ich habe es zum erstenmal geschafft, auf eine körperliche Anmache mit körperlicher Gegenwehr zu reagieren. Das reicht für heute. Nach zehn Jahren Angegrabbel zum erstenmal zurückgeschlagen haben. Und bestimmt nicht zum letztenmal.

    Wenn ich keinen Rock angehabt hätte, wäre mir das nicht passiert. Aber verdammt noch mal. Wieso hat frau nicht das Recht, mit Rock und Bergstiefeln rumzulaufen, ohne angegrabbelt zu werden? Erinnere mich an die Zeiten, wo ich bewußt mit Jeans und Parka rumgelaufen bin, um nicht als Frau identifiziert zu werden, um unscheinbar und unauffällig zu wirken. Ich sehe das nicht mehr ein. Wenn ich aufgetakelt mit knallengen Hosen und tief ausgeschnittenem Dekollete rumlaufen würde, dann bräuchte ich mich nicht zu wundern, okay. Aber ich will doch nur ’n Rock anziehen dürfen und nicht angegrabbelt werden, ’n langen, weiten Rock. Nicht ’n Minirock oder geschlitzt an den Seiten oder so. Ist das zuviel verlangt in dieser Gesellschaft? — Ja. Wenn du im langen Rock über ’n Hauptbahnhof gehst, mußt du die Faust in der Tasche schon geballt haben. Immer einsatzbereit. Immer drauf gefaßt. Damit sie dir auch nicht in der Tasche steckenbleibt, wenn’s drauf ankommt.

    Freiheit und Glück, Zorn und Aufbruch im Bauch, sitze ich beim Abendbrot. Erzähle es Jan und Uschi. Jan erzählt auch ’ne Bahngeschichte. Von ’ner Frau, die auch von einem Typen begrabbelt wurde. Der die ganze Zeit neben ihr gesessen und sie begrabbelt hat. Von den Leuten, die zugeguckt haben. Nichts gesagt haben. Auch nicht, als die Frau schon weinte. Weinte, weil sie nicht wußte wohin . Wohin in einem geschlossenen S-Bahn-Abteil? Die Frau, die sich nicht wehren konnte und deshalb weinte. Bis Jan sich zwischen sie und den Typen gesetzt hat. Und von einer älteren Frau, die zu Jan beim Aussteigen leise, schön leise, damit es keiner hört, sagt: «Das war aber mutig von Ihnen, sich dazwischenzusetzen.»
    Immer schön leise, ja nichts damit zu tun haben. So viel Angst. Nur raushalten. Und zugucken. Ist ja ganz interessant, wenn Frauen angegrabbelt oder geschlagen werden. Erst mal zugucken. Nur nichts sagen. Der könnte ja mir was tun, wenn ich den Mund aufmache. So viel Angst. Und es ist ja normal, daß Frauen angegrabbelt werden.

    Ich erinnere mich an den Typen, der mir, als ich im Treppenhaus saß, plötzlich zwischen die Beine wichste. Ich, die vorher nichts geschnallt hatte, weil er seine Jacke vor ’n Schwanz hielt. Ich, die nur dasitzen und ihn dumm angucken konnte, weil ich nicht wußte, wie ich mich verhalten soll. Ich, die damit nicht gerechnet hatte.

    Jan erzählt die Geschichte von der Frau, die weinte, weil sie nicht gelernt hatte, sich zu wehren. Ich habe heute nicht geweint.
    Ich habe zurückgeschlagen.

    Soll ich heute abend zu Arne gehen? Eigentlich wollte ich ja zu ihm, um ihn ein paar Sachen aus unseren Gesprächen zu fragen, die ich nicht mehr so genau im Kopf habe. Ob er sich daran erinnert, was wir in der Werkstatt 3 diskutiert haben, zum Beispiel: Ich wollte hingehen und sagen: Hallo, da bin ich. Kommst ’n Bier mit mir trinken? Ich will ’n bißchen mit dir schnacken. Du könntest mir bei meinem Buch helfen. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an alles. Und dann hätt ich mich mit ihm in ’ne Kneipe gesetzt. Wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit mal wieder sehen. Aber eigentlich wollte ich das erst in ein paar Wochen machen. So im März oder so. Weil das immer noch gereicht hätte, wenn ich das Manuskript im Mai fertig haben will.
    Aber dann ist mir plötzlich die Idee gekommen, daß ich da auch jetzt schon hingehen könnte. Daß ich mir die Sperrfrist selber eingeräumt habe, um ihm auch wirklich erst dann wieder zu begegnen, wenn ich die ganze Geschichte emotional abgeschlossen habe. Und daß es ja auch nicht eilt, habe ich gedacht, daß ich die Szene dann eben erst später schreibe. Und daß mich ein Treffen mit ihm höchstens wieder in meinem Verarbeitungsprozeß beeinflußt. Ich will das Buch fertig haben, bevor ein Gespräch mit Arne mir wieder neue Aspekte liefert und meinen jetzigen Denkprozeß so verändert, daß ich ganz anders schreibe, als ich heute schreiben würde.
    Aber dann hab ich wieder gedacht, daß ich es doch weitgehend abgeschlossen habe und daß es mich auch interessiert,

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