Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
verfasste er ein sehr geistreiches, stark persönlich gefärbtes Werk in acht Bänden (engl. Ausgabe) mit dem Titel Im Schatten des Korans, durch das er sich seinen Platz als einer der bedeutendsten modernen Denker des Islams sicherte. Seine politischen Ansichten allerdings verdüsterten sich immer mehr.
Als einige der inhaftierten Muslimbrüder in den Streik traten und sich weigerten, ihre Zellen zu verlassen, wurden sie von den Wärtern niedergeschossen. Dabei starben 23 Mitglieder der Bruderschaft, 46 wurden verletzt. Qutb befand sich im Gefängniskrankenhaus, als die Verwundeten eingeliefert wurden. Entsetzt fragte sich Qutb, weshalb Muslime anderen Muslimen so etwas antun konnten.
Qutb gelangte zu einer für ihn charakteristischen radikalen Schlussfolgerung: Seine Wärter hatten Gott verleugnet, indem sie in den Dienst Nassers und des säkularen Staates getreten waren. Deshalb seien sie keine Muslime mehr. Qutb schloss sie im Geiste aus der islamischen Gemeinschaft aus. Die arabische Bezeichnung dafür lautet takfir. Obwohl er diesen Ausdruck nicht verwendete, wurde in diesem Gefängniskrankenhaus das Prinzip der Exkommunikation wiedergeboren, das im Laufe seiner Geschichte zu so viel Blutvergießen innerhalb des Islams geführt hatte. 92
Mit Hilfe von Familienangehörigen und Freunden konnte Qutb seitenweise ein Manifest mit dem Titel Wegzeichen (Ma’alim fi al-Tarik) nach draußen schmuggeln. Es zirkulierte jahrelang im Untergrund in Form ausführlicher Briefe an seinen Bruder und seine Schwestern, die ebenfalls islamistische Aktivisten waren. Die Sprache dieser Briefe war eindringlich, leidenschaftlich, persönlich und von Verzweiflung geprägt. Nachdem das Buch 1964 endlich veröffentlicht werden konnte, wurde es schnell wieder verboten, doch immerhin fünf Auflagen konnten erscheinen. Wer mit einem Exemplar des Werkes erwischt wurde, konnte wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt werden. Sein eindringlicher apokalyptischer Ton ist vergleichbar mit Rousseaus Gesellschaftsvertrag oder Lenins Was tun? - und das Werk zeitigte auch ähnliche blutige Konsequenzen.
„Die Menschheit steht heute am Rande eines Abgrunds“, verkündet Qutb gleich am Anfang. 93 Die Menschheit werde nicht nur durch die nukleare Gefahr bedroht, sondern auch durch das Fehlen von Werten. Der Westen habe seine Lebensfähigkeit eingebüßt, und der Marxismus sei gescheitert. „Zu diesem entscheidenden und kritischen Zeitpunkt sind der Islam und die muslimische Gemeinschaft an einer Wende angelangt.“Doch bevor der Islam die Führungsrolle übernehmen könne, müsse er sich erneuern.
Qutb teilte die Welt in zwei Lager: Auf der einen Seite stand der Islam, auf der anderen die Dschahilija, ein Begriff, der eigentlich jene Zeit der Unwissenheit und der Barbarei bezeichnet, bevor dem Propheten Mohammed die göttliche Botschaft offenbart wurde. Qutb bezog ihn auf alle Bereiche des modernen Lebens: die Sitten, die Moralvorstellungen, die Kunst und die Literatur, das Recht und selbst auf einen Großteil dessen, was als islamische Kultur angesehen wurde. Er lehnte nicht die moderne Technik ab, wohl aber die Anbetung der Wissenschaft, durch die sich seiner Ansicht nach die Menschheit aus ihrer natürlichen Verbindung mit der Schöpfung gelöst habe. Nur durch eine entschiedene Zurückweisung des Rationalismus und des westlichen Wertesystems bestehe eine geringe Hoffnung auf Erlösung durch den Islam. Die Alternative lautete also: der reine, schlichte Islam oder der Untergang der Menschheit.
Durch Qutbs revolutionäre Rhetorik wurden auch nominell islamische Regierungen zum Angriffsziel des heiligen Krieges. „Die muslimische Gemeinschaft gibt es schon lange nicht mehr“, behauptete Qutb. Sie sei erdrückt worden „unter dem Gewicht jener falschen Gesetze und Lehren, die nicht im Entferntesten etwas mit der Lehre des Islams zu tun haben“. Die Menschheit könne nur gerettet werden, wenn sich die Muslime wieder ihre ursprünglichsten und reinsten Ausdrucksformen aneignen. „Wir müssen in einigen muslimischen Ländern eine Bewegung zur Wiederbelebung des Islams gründen“, schrieb er, um ein Beispiel zu setzen, das den Islam schließlich dazu führen werde, seiner Bestimmung gemäß die Weltherrschaft zu übernehmen. „Es sollte eine Vorhut geben, die mit dieser Zielbestimmung antritt und dann den Weg beharrlich weiterverfolgt“, verkündete Qutb. „Ich habe Wegzeichen für diese Vorhut geschrieben, die nach meiner Auffassung eine
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