Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
Konzerthalle fertig gestellt, in der jedoch nie eine Veranstaltung stattfand. Die Zensur legte sich lähmend über Kunst und Literatur, und das geistige Leben, das in dem jungen Land ohnehin nur sehr zaghaft geblüht hatte, verkümmerte nun vollends. Verschlossene und ängstliche Gemüter sind zwangsläufig anfällig für Paranoia und Fanatismus.
Für die jungen Menschen erschien die Zukunft in diesem freudlosen Umfeld noch düsterer als die Gegenwart. Noch vor einigen Jahren konnte Saudi-Arabien damit rechnen, dank seiner enormen Ölvorkommen zum reichsten Land der Welt aufzusteigen im Hinblick auf das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung. Jetzt aber machte der sinkende Ölpreis alle diese Hoffnungen zunichte. Die Regierung, die allen Hochschulabsolventen einen Arbeitsplatz versprochen hatte, zog diese Garantie zurück und schuf dadurch das bislang unbekannte Phänomen der Arbeitslosigkeit. Verzweiflung und Langeweile sind eine gefährliche Kombination in jeder Gesellschaft, daher begann die Jugend Ausschau zu halten nach einem Helden, der ihre Sehnsucht nach Veränderung artikulieren und ihre Wut und Enttäuschung bündeln konnte.
Weder einem Geistlichen noch einem Prinzen, sondern Osama Bin Laden fiel diese neue Rolle zu, für die es im Wüstenkönigreich kein historisches Vorbild gab. Er formulierte eine herkömmliche, an den Ansichten der Muslimbrüder angelehnte Kritik an der misslichen Situation der arabischen Welt: Der Westen, insbesondere Amerika, sei verantwortlich dafür, dass die Araber nicht vorankämen und immer wieder gedemütigt würden. „Sie haben unsere Brüder in Palästina angegriffen und auch die Muslime und Araber andernorts“, verkündete er an einem Frühlingsabend in der Bin-Laden-Familienmoschee in Dschidda nach dem Abendgebet. „Das Blut der Muslime wird vergossen. Nun ist es genug... Man betrachtet uns als Schafe, wir sind tief gedemütigt.“ 18
Bin Laden trug ein weißes Gewand mit einem dünnen, kamelfarbenen Überwurf auf den Schultern. Er sprach mit schläfriger, monotoner Stimme und hob manchmal seinen langen, knochigen Zeigefinger, um eine Aussage zu unterstreichen, doch er wirkte entspannt, und seine Gestik war schlaff und matt. Er hatte bereits den leicht in die Ferne gerichteten messianischen Blick, der später seine öffentlichen Auftritte kennzeichnen sollte. Vor ihm saßen Hunderte Männer im Schneidersitz auf dem Teppich. Viele von ihnen hatten zusammen mit ihm in Afghanistan gekämpft und suchten jetzt eine neue Richtung in ihrem Leben. Ihr alter Feind, die Sowjetunion, befand sich im Zerfall, aber Amerika bot sich nicht sofort als gleichwertiger Ersatz an.
Zunächst fiel es schwer, die Grundlage von Bin Ladens Argumentation zu verstehen. Die Vereinigten Staaten waren nie eine klassische Kolonialmacht gewesen, und Saudi-Arabien war auch nie kolonisiert worden. Natürlich sprach Bin Laden für die Muslime im Allgemeinen, die über Amerikas Unterstützung für Israel erzürnt waren, doch die USA waren im afghanischen Dschihad ein entscheidender Verbündeter gewesen. Ihr Leben werde unter Wert verkauft, erklärte Bin Laden seinen Zuhörern, was sie in ihrem Gefühl bestärkte, dass das Leben anderer - der westlichen Menschen, der Amerikaner - reicher und lebenswerter sei.
Bin Laden setzte zu einem historischen Exkurs an. „Amerika ist nach Vietnam gegangen, Tausende von Kilometern entfernt, und hat die Menschen dort aus Flugzeugen bombardiert. Erst nachdem sie große Verluste erlitten hatten, sind die Amerikaner wieder aus Vietnam abgezogen. Mehr als 60 000 amerikanische Soldaten wurden dort getötet, bis es zu Demonstrationen der amerikanischen Bevölkerung kam. Die Amerikaner werden erst aufhören, die Juden in Palästina zu unterstützen, wenn wir ihnen schwere Schläge versetzen. Sie werden erst aufhören, wenn wir gegen sie in den Dschihad ziehen.“
Bin Laden war drauf und dran, zu gewaltsamen Aktionen gegen die USA aufzurufen, doch plötzlich bremste er sich. „Wir müssen zunächst einen wirtschaftlichen Krieg gegen Amerika führen“, fuhr er fort. „Wir müssen alle amerikanischen Produkte boykottieren … Sie nehmen das Geld, das wir ihnen für ihre Erzeugnisse bezahlen, und geben es den Juden, die unsere Brüder töten.“Der Mann, der sich im Kampf gegen die Sowjets einen Namen gemacht hatte, bezog sich jetzt auf Mahatma Gandhi, der das britische Empire „durch einen Boykott seiner Produkte gestürzt hatte und indem er nichtwestliche Kleidung trug“.
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