Der Todschlaeger
Kummer und Arbeit,
Elend und Unglück vorzeitig alt gewordenen
Menschen mit hilflosen Händen voreinander
stehen, nichts mehr füreinander zu tun
vermögen und wie aus den wenigen Sätzen,
die sie miteinander wechseln, ihr ganzes
verlorenes Leben aufscheint, dieses bißchen
Glück, das sie nur einmal ahnen, aber nicht
ergreifen durften, und wie Gervaise dann nach
Hause schlurft und in ihrer Verzweiflung
geradezu die Verkörperung des Todes, den
alten Bazouge, anruft – das sind Bilder, so echt
und überzeugend, daß sie den Arbeiterbildern
der Kollwitz an menschlich Erschütterndem in
nichts nachstehen.
Hatte doch auch Zola, ähnlich wie die
berühmte Malerin, jahrelang mitten unter den
Menschen gewohnt und gelebt, die er in
diesem Roman wiedergab. Diesmal brauchte
er in keinem Spezialwerk nachzuschlagen, um
zu wissen, wie lange man von zehn Francs
schlecht und recht (und meist mehr schlecht
als recht) leben konnte, wie hoch die Mieten in
diesen Elendsquartieren waren oder was man
für ein Hemd bei der Büglerin zahlen mußte.
Von Balzacs Werken hatte Engels gesagt, daß
er selbst in den ökonomischen Details aus
ihnen über die Epoche LouisPhilippes mehr
erfahren habe als aus aller, einschlägigen
Spezialliteratur, und die moderne
literarhistorische Forschung konnte mit Recht
darauf hinweisen, daß man selbst beim Verlust
aller Spezialwerke über Handel, Gewerbe und
Industrie, aller Geschichtsbücher und
soziologischen Darstellungen der Zeit in
Balzacs »Menschlicher Komödie« noch immer
genügend Dokumentationsmaterial finden
würde, um sich ein sehr genaues Bild dieser
Epoche, bis in die Einzelheiten hinein eine
exakte Vorstellung von der Einrichtung einer
Bürgerwohnung, der Arbeitsweise einer
Druckerei, vom Warensortiment eines
Antiquitätenladens oder von der obligaten
Speisefolge bei einem Galadiner im Faubourg
SaintGermain machen zu können.
Ähnliches gilt auch für Zola. Und dieses
Durchweben der ganzen Darstellung mit einer
Unmenge sachlicher und ökonomischer
Details – wir erfahren genau, welche Eisen
eine Wäscherin zum Bügeln einer Haube und
welche zum Plätten eines Unterrocks
verwendet, wie die Waschkojen in einem
öffentlichen Waschhaus angelegt sind, was die
Büglerinnen bei Frau Fauconnier verdienen
oder die Nagelschmiede in Goujets Werkstatt,
was ein Hausbesuch des Arztes kostet, was
man für die Hebamme, die Waschfrau, für die
Trauung, das Hochzeitsgedeck, das Begräbnis,
die Möbel, die Tapeten, die Standuhr, die
Kohlen, einen Schoppen Wein, ein Glas
Schnaps zahlt und was man Trinkgeld in einer
Kneipe gibt –, alles das verleiht den Bildern
Zolas nicht nur dokumentarischen Wert,
sondern macht sie zugleich noch greifbarer,
plastischer, echter, erhöht beim Leser die
Illusion selbst erlebter Wirklichkeit.
Nicht zuletzt trug dazu auch die Sprache des
Romans bei. Sie zu finden war nicht leicht
gewesen. Galt es doch, die Stilhöhe der
Gesamtdarstellung dem Charakter des
Gegenstandes anzupassen und es zwischen den
wechselnden Passagen der Beschreibungen,
Dialoge und Erzählungen der handelnden
Personen möglichst zu keinem Stilbruch
kommen zu lassen. Zola war sich dieser
Schwierigkeiten voll bewußt. In einem Brief
vom 17.9.1875 an Paul Alexis, dem er in
großen Linien sein Projekt mitteilt, vermerkt
er ausdrücklich: »Bleibt noch der Stil offen,
und der wird schwer zu finden sein.« Und auf
den Stil kam er auch in seinen Verteidigungen
des »Totschlägers« zurück, nun allerdings aus
anderen Gründen.
Hatte schon Figuren und Themenwahl großen
Anstoß erregt, so brachte die sprachliche Form
die Kritiker der führenden Tagesblätter; wie
Albert Millaud, Henry Houssaye, M. de
Pontmartin oder Jules Claretie, vollends zur
Verzweiflung. Jene jedoch, die ein waches Ohr
für neue, vielleicht gewagte, aber auf jeden
Fall weiterführende literarische Experimente
hatten, wie Huysmans, Wolff oder auch
Edouard Rod, verteidigten diesen stilistischen
Versuch. »Einige haben behauptet«, so
schreibt Albert Wolff am 5.2.1877 im
»Figaro«, »man müßte sich die Nase zustopfen
vor dem Dreck, den der Autor des
›Totschlägers‹ aufwühlt; sie hätten aber besser
daran getan, die Ohren aufzusperren, um sich
Rechenschaft zu geben über die
Ausdruckskraft, die die Verwendung der
Arbeitersprache der Erzählung von Herrn Zola
verleiht.« Endlich habe einer gewagt, seine
Gestalten die wahre Sprache der
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