Der Todschlaeger
Kleider
betrachteten und nachsahen, ob sie keine
Flecke abbekommen hatten.
Frau Lerats ausgefaserte Fransen mußten in
den Kaffee getunkt worden sein. Frau
Fauconniers rohseidenes Kleid war voller
Soße. Mama Coupeaus grünen Schal, der von
einem Stuhl gefallen war, hatte man soeben in
einer Ecke zusammengerollt und zertreten
wiedergefunden. Aber vor allem Frau
Lorilleux konnte ihres Zornes nicht Herr
werden. Sie habe einen Fleck im Rücken, man
könne ihr noch so sehr schwören, das stimme
nicht, sie spüre ihn. Und indem sie sich vor
einem Spiegel verrenkte, sah sie ihn
schließlich.
»Was habe ich gesagt?« rief sie. »Es ist
Hühnerbrühe. Der Kellner wird das Kleid
bezahlen. Eher strenge ich einen Prozeß gegen
ihn an ... Oh, an dem Tag ist auch alles dran.
Ich hätte besser daran getan, wenn ich
liegengeblieben wäre ... Ich mach zunächst
mal, daß ich wegkomme. Ich habe genug von
denen ihrer lumpigen Hochzeit!«
Wütend ging sie fort und ließ die Treppe unter
den Hieben ihrer Absätze erzittern. Lorilleux
lief hinter ihr her. Aber alles, was er erreichen
konnte, war, daß sie fünf Minuten auf dem
Bürgersteig warten würde, falls man
zusammen fortgehen wolle. Sie hätte nach
dem Gewitter gehen sollen, wie sie so gern
gewollt hatte. Diesen Tag solle Coupeau ihr
büßen. Als der erfuhr, daß sie so erbost war,
schien er bestürzt zu sein; und um ihm Ärger
zu ersparen, willigte Gervaise ein, sofort
heimzugehen.
Darauf umarmte man sich schnell. Herr
Madinier übernahm es, Mama Coupeau
heimzubegleiten. Frau Boche sollte Claude
und Etienne für die erste Nacht zum Schlaf en
mit zu sich nach Hause nehmen; ihre Mutter
konnte wirklich unbesorgt sein, Die Kleinen
schliefen auf Stühlen, weil sie durch den mit
Eierschnee tüchtig verdorbenen Magen ganz
träge geworden waren. Schließlich entfloh das
Brautpaar mit Lorilleux und ließ die übrigen
Hochzeitsgäste in der Weinschenke zurück, als
sich unten beim Schwof eine Prügelei
zwischen ihrer Gesellschaft und einer anderen
entspann. Boche und MeineBotten, die eine
Dame geküßt hatten, wollten sie nicht den
beiden Soldaten zurückgeben, zu denen sie
gehörte, und drohten in dem tollen Radau des
Pistons und der zwei Geigen, die die
Perlenpolka spielten, mit dem ganzen Pack
aufzuräumen.
Es war kaum elf Uhr. Auf dem Boulevard de
la Chapelle und in das ganze Viertel La
Goutted'Or brachte der halbmonatliche
Lohntag, der auf diesen Sonnabend fiel, einen
ungeheuren Saufspektakel. Frau Lorilleux
stand zwanzig Schritte von der »Moulin
d'Argent« entfernt unter einer Gaslaterne und
wartete. Sie nahm den Arm ihres Mannes und
schritt, ohne sich umzudrehen, so schnell
voraus, daß Gervaise und Coupeau beim
Hinterhergehen außer Atem kamen. Zuweilen
gingen sie vom Bürgersteig herunter, um
einem Betrunkenen auszuweichen, der dort
hingefallen war und alle viere von sich
streckte.
Lorilleux drehte sich um und Suchte alles
wieder einzurenken.
»Wir bringen euch bis zu eurer Tür«, sagte er.
Frau Lorilleux aber erhob die Stimme und
fand es komisch, seine Hochzeitsnacht in
diesem stickigen Loch im Hotel Boncœur zu
verbringen. Hätten sie die Hochzeit nicht
lieber aufschieben, ein paar Sous sparen und
sich Möbel kaufen sollen, damit sie am ersten
Abend zu sich nach Hause gehen konnten? Na,
sie würden sich ja wohl fühlen da oben unterm
Dach, beide in einer Kammer zu zehn Francs
übereinandergestapelt, in der nicht einmal Luft
vorhanden sei.
»Ich habe gekündigt, wir bleiben nicht oben«,
wandte Coupeau schüchtern ein. »Wir
behalten Gervaises Zimmer, das größer ist.«
Frau Lorilleux vergaß sich, drehte sich mit
einer jähen Bewegung um.
»Das ist ja noch schöner!« schrie sie. »In
Hinkebeins Zimmer willst du schlafen?«
Gervaise wurde ganz blaß. Dieser Spitzname,
den sie zum erstenmal ins Gesicht geworfen
bekam, traf sie wie eine Ohrfeige. Außerdem
hörte sie sehr wohl aus dem Ausruf ihrer
Schwägerin heraus: Hinkebeins Zimmer, das
war das Zimmer, in dem sie einen Monat mit
Lantier gelebt hatte, in dem die Lumpen ihres
verflossenen Lebens noch herumlagen.
Coupeau verstand nicht, er war nur über den
Spitznamen gekränkt.
»Es ist nicht recht von dir, anderen Beinamen
zu geben«, antwortete er verstimmt. »Du weißt
wohl nicht, daß du im Viertel deiner Haare
wegen Kuhschwanz genannt wirst? So, das ist
dir nicht angenehm, nicht wahr? – Warum
sollten wir nicht das
Weitere Kostenlose Bücher