Der Tote im Eiskeller
Maline sah Rosinas zorngerötetes Gesicht und stellte sich rasch neben Rutger. «Ich wäre Euch sehr verbunden, Madame, wenn ich aus Eurer Küche eine Kanne siedendes Wasser holen dürfte. Hanne braucht heißen Tee, Rutger hat heilende Kräuter gebracht. Ich bezahle das Wasser», fügte sie zögernd hinzu.
«Behalt deine Dreilinge, Maline, und hol dir das Wasser. Der Kessel hängt über dem Feuer. Aber nur für Hanne. Ich kann mir nicht erlauben, auch noch ihre Gäste zu bewirten. Was, glaubst du, zahle ich dem Träger jeden Tag für das gute Brunnenwasser? Und lass dir nicht einfallen, wieder von dem Eisvorrat zu nehmen. Der ist knapp genug, wer weiß, wann ich wieder welches bekommen kann. Bis zum Winter ist es noch lange, und nicht jeder Grönlandfahrer macht auf halber Strecke schlapp und bringt Eis statt Walspeck. Was, Rutger?»
Rosina hörte ein feines Geräusch, es klang, als mahlten kräftige Zähne aufeinander.
«Und du, Kind?» Madame Regina beugte sich über Hanne und schüttelte missbilligend schnalzend den Kopf. «All die Jahre habe ich dir und deiner Mutter ein Dach über dem Kopf gegeben, und was ist der Dank? Du liegst hier herum und machst ein Gesicht, als stehe ein Heer schwarzer Engel vor der Tür. Na gut, trink deinen Tee.» Sie strich mit einer unbeholfen zögernden Bewegung eine feuchte Strähne aus Hannes Stirn. «Und reiß dich ein bisschen zusammen, Kind. Dann geht alles. Morgen sieht die Welt besser aus. Sieh mich an: Hätte ich so viel erreicht, wenn ich jeder Schwäche nachgegeben hätte?»
Ohne die anderen noch zu beachten, öffnete sie die Tür und stand vor einem Mann, der sie mit erschreckten, fiebrigen Augen ansah.
«Noch einer.» Ihre Stimme klang wieder ruppig wie zuvor. «Was willst du? Eine Kranke ist mir genug. Oder bist du nicht mehr krank?»
Sie drängte sich an ihm vorbei und stieß mit kehligem Lachen den Griff ihres Fächers gegen seinen linken Arm. Er fuhr mit einem unterdrückten Schrei zurück. Auch Wochen nach der Amputation spürte er jede Berührung des Stumpfes wie ein glühendes Messer.
Madame Regina drehte sich noch einmal um. «Bist du nicht froh, Hanne? Nicht ein bisschen vergnügt?», spottete sie. «Heute haben sie ihn in die Gruft gelegt, und du hattest ihn doch besonders gern, unseren schönen Oberleutnant. Es ist wirklich schade um ihn. So ein angenehmer Kunde.»
Wagner hatte nicht gezählt, wie viele Männer, Frauen und Kinder er in seinen Jahren als Weddemeister verhört hatte.Es mussten Hunderte sein, ihre Verbrechen reichten vom Diebstahl eines Apfels über das Drucken und Schreiben lasterhafter Pamphlete bis zum mehrfachen Mord, und er war daran gewöhnt, herauszubekommen, was er wissen wollte. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass es ihn nicht wirklich störte, wenn sich ein vermeintlicher Delinquent als unschuldig erwies.
Dazu bedurfte es allerdings zuverlässiger Zeugen. Seltsamerweise fanden sich sehr viel leichter Menschen, die einen Verdächtigen belasteten. Im Fall Magda Knebusch und Neele Ellert fanden sich genug Klatschmäuler, aber überhaupt keine Zeugen. Die Opfer der Überfälle, Hecker, Müllerjohann und auch Schott, der Spinnhausaufseher, weigerten sich, die Frauen zu identifizieren. Das sei nicht möglich, ließen alle drei ausrichten, sie hätten die Täter nicht gesehen. Jedenfalls seien es Männer gewesen, das stehe außer Frage! Weibspersonen wären nicht in der Lage, sie zu überwältigen, auch nicht in einem überraschenden Moment und mitten in der Nacht. Im Übrigen seien sie unabkömmlich, ihre Pflichten ließen ihnen dieser Tage keinen Raum für einen überflüssigen Gang in die Fronerei. Das vierte Opfer konnte naturgemäß nicht befragt werden, da es schon in der Gruft lag.
Blieben die Herren Bocholt und Herrmanns und Stallmeister Brooks, die jedoch nicht mehr bezeugen konnten, als dass die Frauen auf offener Straße den Kaufmann bedroht hatten, was die Frauen wiederum beharrlich bestritten. Natürlich galten die Stimmen ehrbarer Männer mehr als die verdächtiger Frauen, zumal solcher Frauen. Aber Wagner war ehrgeizig, in seinem Charakter steckte etwas von einem Jagdterrier. Er ließ seine Opfer nicht los, bis er sie zweifelsfrei zur Strecke gebracht hatte. Erst dann übergab er sie den Gerichtsherren. Bisher war niemand freigesprochenworden, von dessen Schuld der Weddemeister überzeugt gewesen war. In diesem Fall war er kurz davor, sein Prinzip aufzugeben. Sollten sich doch die Richter mit der Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher