Der Tote im Grandhotel
sich ein wütender Hunger beim Anblick der Kaviardosen und einer Kiste mit auf Eis gelagerten Muscheln, die wie für ein malerisches Stillleben vorbereitet wirkten. Schließlich hatte sie seit einer kleinen Ewigkeit weder etwas gegessen noch getrunken.
Der Magere öffnete die Tür ein wenig, spähte nach draußen in beide Richtungen und riß sie dann diensteifrig weit auf.
Britta trat ins Freie. Es regnete leicht. Die frische Luft, wie reingewaschen, füllte ihre Lungen und wirkte wie ein Schock. Als sie strauchelte, ergriff der Alte energisch ihren Arm. Flüchtig sah sie einen kleinen Kombi-Lieferwagen mit der Aufschrift ›Seafood Murmansk‹, rote Buchstaben auf blau-weiß gestreiftem Grund.
Ihr monströser Begleiter dirigierte sie zu einem schwarzen Mercedes in Überlänge. Er führte sie am Ellenbogen, und für harmlose Beobachter sah es wahrscheinlich so aus, als ließe sich ein schütterer Opa von seiner Enkelin stützten. Aber Britta spürte die Krallenhand, sehr fest und kräftig, und sie verbannte den Gedanken an Flucht, der blitzartig aufgetaucht war. Hier gab es kein Entkommen.
Der Alte schob sie in den Fond des Wagens und ließ sie zur anderen Seite durchrutschen. Drinnen duftete es nach Leder und Zigaretten und Herrenparfüm, und sie dachte beinahe belustigt, daß es gleich nicht mehr so gut riechen würde. Am Steuer saß der Mann, der sie – ihr schien: vor langer, langer Zeit, in einem anderen, noch vergleichsweise glücklichen Leben – hergefahren hatte. Aber vielleicht ähnelten diese dienstbaren Ganoven einander für ihre Augen auch nur wie ein Chinese dem anderen.
Von dem schönen Neffen, der also Vlado hieß, konnte man das allerdings nicht sagen. Er sah beinahe unwirklich aus, wie das Klischee eines schönen Mannes. Und der Onkel war ebenfalls einmalig, eben unbeschreiblich häßlich, bis auf die Augen. Ja, die Augen waren überraschend in dem verwüsteten Gesicht, wie eine Rose auf dem Müll.
Als sie bei Rot an einer Ampelkreuzung halten mußten, stoppte genau neben dem Mercedes ein Polizeifahrzeug. Der junge Polizist am Steuer hörte offenbar Popmusik, denn er klopfte rhythmisch mit einer Hand aufs Steuer und zuckte mit Kopf und Schultern, dazu hatte er ein kleines Lächeln aufgesetzt, den Mund leicht geöffnet. Vielleicht schwelgte er in netten Erinnerungen.
Britta beschwor ihn in Gedanken. Schau her zu mir, du mußt sehen, was sie hier mit mir machen. Sie versuchte, all ihre Kraft auf diesen Wunsch zu konzentrieren. Es gab doch so etwas wie Gedankenübertragung. Jetzt mußte es funktionieren. Sie würde ihm ein winziges Zeichen machen. Er mußte ihren flehenden Blick bemerken, ihr ramponiertes Aussehen, das in so einem Wagen doch sicher auffiel.
Solche Luxusschlitten – mit Chauffeur! – fuhren doch sonst nur in Werbespots, wenn die Dame im Fond Appetit auf irgendeine Kleinigkeit bekam und die männliche Perle am Steuer die Nascherei aus dem Geheimfach vorfahren ließ.
Bitte, dachte Britta inbrünstig, bitte, sieh her!!
Und er tat es wirklich. Er wandte den Kopf, schaute in Brittas Richtung, schaute wieder geradeaus und fuhr an, genau wie der Mercedes. O Gott, er hatte nur automatisch nach dem Nebenfahrzeug gesehen, um den Abstand zu prüfen, aus purer Gewohnheit.
Britta sah zu ihrem Nebenmann hin. Er lächelte sie an. Hatte überraschend ebenmäßige Zähne. Wohl ein Gebiß. Er schwieg, aber Britta wußte, daß er etwas gemerkt hatte. Und sie fürchtete hellsichtig, daß er sie dafür bestrafen würde.
Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber dann sagte sie sich, daß ihre einzige Chance darin lag, den Rest bezaubernder Weiblichkeit auszuspielen. Sie lächelte zurück.
So ein Lächeln hatte früher die Männer gefügig gemacht. Nick Lederman hatte sie manchmal ›bright Britta‹ genannt, strahlende Britta. O ja.
Sie fuhren eine lange Strecke, hinaus aus der Stadt. Daß ihr die Augen nicht verbunden worden waren, konnte ebenso ein freundliches Zeichen sein wie eins dafür, daß sie sowieso nie Gelegenheit erhalten würde, ihr Ziel preiszugeben.
Angst erfüllte sie, saß kalt in ihrem Bauch, lähmte ihren Atem, machte den Mund trocken und ließ die Augen brennen. Vor allem steckte sie wie ein Schraubstock in ihrem Rücken.
Nie vorher hatte Britta wirklich Angst gehabt. Der Alte sprach nicht zu ihr. Er hatte die schweren Lider fast geschlossen. Sein Kopf pendelte, die vorgebeugte Haltung hielt ihn beinahe in der Waagerechten.
Endlich hielten sie an. Eine
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