Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
Vom Netzwerk:
blieben. Entsprechend fühlte ich mich immer wie eine Fremde, die der Sprache nur ungenügend mächtig war.
    »Und?«, drängte ich.
    Wir standen hinter der halb gestrichenen Wand. Die Stimme der Nonne war leise.
    »Abt Kem wurde von einem seiner Schäfchen der Unzucht beschuldigt«, sagte sie.
    Ich sah sie an und wagte etwas: »Mit Ihnen?«
    »Ja.«
    Nonnen und Mönche und Unzucht. Ist es ein Wunder, dass ich alldem aus dem Weg ging? In der Grundschule lernten wir die goldenen Regeln auswendig. Im Moment fiel mir keine ein, aber … Äbte, die mit Nonnen schliefen, waren irgendwie nicht okay.
    »Und haben Sie?«, fragte ich. »Hat er?«
    »Nein.«
    »Aber früher war da … irgendwas.«
    »Wir kennen uns seit vielen Jahren«, sagte die Nonne. »Wir mochten uns schon immer. Bevor die Religion in unser Leben trat, hatten wir die schönste und reinste Freundschaft, die zwei Menschen miteinander haben können. Wir standen uns sehr nah, tun wir immer noch. Wir sahen die Welt mit den Augen des anderen, atmeten dieselbe Luft.«
    Vielleicht war ich ein bisschen begriffsstutzig, und vermutlich war es auch nicht der richtige Moment, von Sex zu sprechen, aber alles konnte wichtig sein.
    »Und obwohl Sie mit denselben Augen geguckt und dieselbe Luft geatmet haben, blieb es dennoch platonisch?«
    »Ja.«
    »Sie hatten diese sehr, sehr enge Verbindung, aber trotzdem hat sich daraus nichts ergeben, und Sie sind Ihrer eigenen Wege gegangen und haben beide zur Religion gefunden?« Ich hoffte, dass ich nicht zynisch klang.
    »Ja.«
    »Und rein zufällig, obwohl es vierzigtausend wats in Thailand gibt, sind Sie beide durch eine Laune des Schicksals zusammen hier gelandet?«
    Wieder lächelte sie. »Natürlich nicht. Wir haben den Kontakt immer gehalten: Briefe, Telefonate. Wir sind wie Geschwister. Wir haben eine enge Bindung. Ich glaube, wir wussten immer, dass wir am selben Ort landen würden. Abt Kem hat mir von der kargen Schönheit dieser Gegend erzählt, und ich habe beschlossen, aus dem Nordosten hierherzuziehen.«
    Okay, die große Preisfrage. Ohne Telefonjoker. Ohne Hilfe des Publikums.
    »Lieben Sie sich noch?«, fragte ich.
    Die Nonne seufzte schwer, dann wurde sie bedeutungsschwanger. Sie legte ihre Hände auf dem Schoß zusammen und betrachtete ihre Zehen. Es wirkte einstudiert.
    »Wenn man das Dharma erfasst«, sagte sie, »fließen Liebe und Hass mit ein in ein größeres Verständnis des Universums. Persönliche Vorlieben und Abneigungen sind irrelevant. Man ist kein Individuum mehr. Man ist Teil des Ganzen.«
    Hübsche Predigt. Ich glaubte ihr nicht. Mich ärgerte, dass ich nicht wusste, wie der Abt die Sache sah. Ich musste ihm in die Augen sehen und es aus seinem Mund hören. Schließlich konnte das Ganze auch der Fantasie der Nonne entsprungen sein. Allerdings hatte ich da so meine Zweifel.
    »Sie lieben sich also nicht mehr?«, fragte ich.
    Wahrscheinlich versündigte ich mich, wenn ich eine Nonne zwang, persönliche Fragen zu ihrem Liebesleben zu beantworten, aber immerhin bearbeitete ich hier einen Mordfall – endlich. Gott sei Dank war ich auf keiner dieser Selbstkasteiungsschienen, die organisierte Religionen so liebenswert machen.
    »Meine Liebe ist allumfassend«, sagte sie.
    Okay. Technisch gesehen bin ich Buddhistin. Es steht in meinem Ausweis. Nur wurde ich als eine Art verquere Realistin aufgezogen. Meine Mutter hat mich in diese moderne Welt gestoßen, in der ich mich mit Technik und fremden Kulturen anfreunden sollte. Und wenn auch etwas in mir an eine höhere Ebene glaubt, auf der Jogging und Big Brother Thailand und Bon Jovi keine Rolle spielen, fällt es mir doch schwer zu glauben, dass der hagere, alte Abt Kem je aufgehört hatte, die warmherzigste Nonne auf diesem Planeten zu lieben. Aber war sie es wert, dafür den neugierigen Abt zu ermorden? Ich wüsste zu gern, wie Raymond Chandler das in Worte fassen würde.
    Da die Ermittler der Kripo und die Mönche von der Abteilung für Innere Angelegenheiten wieder im Büro waren und ermittelten und mein Bruder und sein Pick-up nirgendwo zu sehen waren, nutzte ich die Gelegenheit, mir den Tatort anzusehen. Der lebende Abt – Kem – durfte das Tempelgelände nicht verlassen, musste aber nicht in seinem Quartier bleiben, also ging er mit mir den betonierten Pfad entlang zu der Stelle, wo man den toten Abt – Winai – gefunden hatte. Eine lethargische Prozession von Tempelhunden folgte uns. Ich versuchte, ihn zu seiner Beziehung zu befragen, doch bei

Weitere Kostenlose Bücher