Der Tote vom Strand - Roman
Sonnenbrille. Als seien die imaginären Augen doch vorhanden.
Und jetzt?, überlegte sie. Was, zum Teufel, mache ich jetzt?
Und die Panik näherte sich wie ein Fieber in der Nacht.
Schuld?
Warum fühle ich mich schuldig, fragte sie sich.
Unruhe und Angst und Panik. Es muss etwas passiert sein. Aber warum fühle ich mich zu allem Überfluss auch noch schuldig?
Sie hatte nur getan, was getan werden musste. Damals wie jetzt.
Das getan, was sich nicht vermeiden ließ. Früher oder später musste es getan werden. Ein Kind muss die Wahrheit über seine Eltern erfahren. Eine Seite dieser Wahrheit zumindest. Hat dieses Recht, dieses unbestreitbare Recht, das lässt sich nicht wegdiskutieren.
Früher oder später, wie gesagt, und sie hatten schon längst den achtzehnten Geburtstag dafür ausersehen.
Sie dachte an Helmut und seine üble Laune am letzten Abend.
An Mikaela und deren spontane Reaktion, die doch so ausgefallen war, wie sie es erwartet hatte.
Oder etwa nicht? Hatte sie im Grunde geglaubt, die Tochter werde den Rat der Mutter befolgen und die ganze Sache auf sich beruhen lassen? Alles liegen lassen, ganz unberührt, wie etwas Stummes und Verwelktes und Vergessenes? Und nicht einmal den Deckel anheben?
War es so? Hatte sie geglaubt, sie werde ihn nicht aufsuchen?
Natürlich nicht. Mikaela war Mikaela, und sie war die Tochter ihrer Mutter. Sie hatte sich genauso verhalten, wie die Mutter es erwartet hatte. Wie die Mutter selber sich verhalten hätte.
Hatte sie ihr Vorwürfe gemacht?
Hatte Mikaela ihrer Mutter Vorwürfe gemacht, weil sie es nicht früher erfahren hatte? Oder weil sie es jetzt erfuhr?
In beiden Fällen nein.
Vielleicht ein wenig, weil sie noch nicht alles erfahren hatte, aber zum Verstehen reichte es trotzdem. Zweifellos. Und sie hatte noch etwas übrig lassen müssen, das Arnold erzählen konnte. Hatte ihm zumindest eine Chance geben müssen.
Und Helmuts schlechte Laune?
Nicht der Rede wert. Wie üblich.
Warum also dieses Ekel erregende Schuldgefühl?
Sie hatte eine Notration Zigaretten gekauft und wühlte jetzt in ihrer Handtasche danach. Kehrte auf den Balkon zurück, steckte sich eine an und ließ sich im Sessel zurücksinken.
Beim ersten Zug wurde ihr schwindlig.
Arnold?, dachte sie.
Sollte ich Arnold etwas schuldig sein?
Was für ein Unsinn. Sie machte noch einen Zug.
Und fing an, an ihn zu denken.
Nicht einmal ein Anruf.
Kein Brief, keine Zeile, kein Wort.
Nicht von ihm an sie, nicht von ihr an ihn.
Wenn er tot wäre, hätte sie das vielleicht nicht einmal erfahren.
Oder gab es noch eine Mitteilungspflicht? Von Seiten des Sidonisstifts? Hatte sie so ein Papier unterschrieben? Ihren Namen und ihre Adresse hinterlegt? Sie wusste es nicht.
Und wenn er in ein anderes Heim gekommen wäre, hätte Mikaela ihn vielleicht nie erreichen können?
Aber er war noch dort. Sie hatte am Vortag dort angerufen und die Sache überprüft. Doch, Mikaela war gekommen und hatte ihn angetroffen. So sah die Lage aus.
Er hatte vermutlich all diese Jahre in seiner eigenen stummen Hölle verbracht. Sechzehn Jahre. Und gewartet. Vielleicht hatte er auf sie gewartet? Auf Mikaela? Oder auch auf seine verlorene Ehefrau?
Aber das wohl eher nicht. Vermutlich war sein Gedächtnis leer. Er war nicht gesund gewesen, als sie ihre Tochter genommen und ihn verlassen hatte. Von einer Haftstrafe war nie die Rede gewesen. Ihres Wissens nach zumindest nicht.
Verrückt. Der Geist vollkommen vernebelt. Hatte sich mitten in der Verhandlung die Hose nass gemacht, aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich gerade an dieses Detail mit erbarmungsloser Schärfe ... wie er dort im Gerichtssaal auf seinem Stuhl gesessen und der Sache ihren Lauf gelassen hatte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen ... nein, Arnold hatte vor sechzehn Jahren eine Grenze überschritten, und es gab keinen Weg zurück.
Keinen Weg und keine Brücken. Nur Vergessen und neue innere Landschaften. Je einsamer, desto besser.
Sie drückte ihre Zigarette aus. Zu viele Wörter, dachte sie. Es gibt zu viele Wörter, die durch meinen Kopf wirbeln, sie hindern mich am klaren Denken.
Arnold? Mikaela?
Aber unter den Wortwirbeln brodelte nur die Panik, das wusste sie, und plötzlich wünschte sie Helmut herbei.
Helmut, den Fels. Helmut, das Urgestein.
Er hatte sich angeboten, hatte fast darauf bestanden, aber sie hatte sich geweigert.
Es ging hier ja nicht um ihn. Helmut hatte an der ganzen Sache keinen Anteil. Es war eine Abrechnung
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