Der transparente Mann (German Edition)
allein und hoffte, er würde bald nach Hause kommen. Üblicherweise ging er samstags als silberner Clown auf den Marienplatz. Das schöne Wetter und Wochenendgefühle ließen die Menschen verweilen. Zu gern hätte sie jetzt Alf von Konstantin, dem Hausmeister und dem Kassierer an der Tankstelle erzählt. Vielleicht verstand er dann, warum sie ihren Plan mit der Webpage unbedingt in die Tat umsetzen musste.
Die erste Tüte Chips war bald geleert. Joe gab das Warten auf. Sie zog ihre Jogginghose an, jenes Exemplar, das eine Frau nur trägt, wenn garantiert kein Liebhaber in der Nähe ist. In dieser verwaschenen roten Jogginghose mit ausgebeultem Po ging sie in ihr Zimmer, setzte sich an ihren Tisch auf Rollen, schaltete den Laptop ein und spielte das neue Programm auf die Festplatte. Dann wurde es Abend. Das Telefon klingelte nicht, genauso wenig ihr Handy. Alf blieb verschollen. Warum meldete er sich nicht? Joe schalt sich für den Gedanken. Schließlich waren sie kein Paar, und auch Joe hatte nie daran gedacht, Alf zu informieren, wenn sie nicht planmäßig nach Hause kam. Das tat ihr jetzt sehr leid. Bestimmt hatte auch er sich das eine oder andere Mal so verlassen gefühlt, wie sie sich jetzt fühlte.
Joe ging in die Küche, blickte lustlos in den Kühlschrank, nahm ein Bier heraus, schmierte sich ein Käsebrot und schaute hinab auf die Straße, als könnte sie seine Heimkehr so heraufbeschwören. Danach setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch. Als Mitternacht lange vorbei war, nahm Joe ihren Laptop mit ins Bett. Bäuchlings auf der Matratze liegend, feilte sie am Design ihrer Webpage. Sie nannte sie www.der-transparente-mann.de . Es kostete sie mehr Mühe als gedacht, obwohl sie im Umgang mit Computer und Server geübt war, denn sie hatte schon die Webpage der Firma Benk eingerichtet. Wenigstens lenkte die Arbeit sie von ihrer Einsamkeit ab, die schon den ganzen Tag an ihr nagte. Irgendwann schlief sie dann doch ein. In ihrem Traum rannte Konstantin wie ein Hase über eine schier endlos erscheinende Wiese, verfolgt von einer Horde Frauen und wüsten Beschimpfungen. Fast tat er ihr leid. Er versuchte, ein rettendes Wäldchen zu erreichen, wo er sich im Gebüsch oder hinter dicken Baumstämmen verstecken konnte. Aber je schneller er lief, desto weiter schien sich das Dickicht von ihm zu entfernen. Er schwitzte, stöhnte und schrie.
Joe lächelte im Traum. Zum ersten Mal seit Wochen fand sie einen erholsamen Schlaf.
Am nächsten Morgen war Alfs Bett noch immer unberührt. Die Tagesdecke lag ordentlich darüber ausgebreitet, kein Stäubchen auf den Regalen mit Kristallen, Duftlampen und Büchern, die Lebensweisheiten und Lebenshilfen enthielten, keine seiner manchmal aberwitzig geblümten Hosen lag verstreut auf dem Boden, keines seiner Shirts. An der Innenseite der Tür hing sein silbernes Kostüm ordentlich auf dem Bügel. Alf hatte also am Vortag nicht auf dem Marienplatz den Clown gespielt.
Während Joe zerstreut die verschiedenen Tiegel, Puderdosen und Pinsel auf seinem Schminktisch betrachtete, den er unlängst vom Sperrmüll gerettet hatte, erinnerte sie sich an das Gefühl, das sie empfunden hatte, als Alf sie hier vor diesem Spiegel von Minute zu Minute mehr in einen Clown verwandelt hatte, der später nur noch ein trauriger Narr gewesen war. So schnell ihr dieser Gedanke in den Kopf schoss, so schnell katapultierte sie ihn wieder hinaus. Sie wollte sich nie mehr in ihrem Leben so schlecht fühlen wie an jenem Tag. So fassungslos, so enttäuscht, so ungläubig und so unendlich beschämt.
Erneut blickte sie auf das Bett. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass Alf in den letzten Monaten nicht hier geschlafen hätte. Nachdenklich schloss sie seine Zimmertür hinter sich. Langsam machte Joe sich echte Sorgen. Aber da Alf erklärter Gegner mobiler Telefone war, konnte sie ihn auch nicht anrufen. Er hielt diese kleinen piependen und fotografierenden elektronischen Monster für eine Geißel der Zeit, weil man durch sie einer ständigen Kontrolle ausgesetzt war und gestört wurde, wo Ruhe doch für Alf das höchste Gut war. Beharrlich verweigerte er sich dieser technischen Errungenschaft, selbst als Joe ihm eines zum Geburtstag hatte schenken wollen. Ja, er war über Joes Ansinnen, ihn zum »Sklaven der Technik« machen zu wollen, geradezu entrüstet gewesen.
So blieb Joe nichts anderes übrig, als auch noch den ganzen Sonntag zu warten, ein Käsebrot nach dem anderen zu verspeisen und an ihrer Webpage zu
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