Der Traum des Kelten
Versuch, per Boot an Land zu gelangen, wären sie alle drei beinahe ertrunken, weil sie nicht rudern konnten. Weil sie nicht rudern konnten! Aber so war es: Dumme Kleinigkeiten konnten große Vorhaben zum Scheitern bringen. Er erinnerte sich an das regnerische Morgengrauen, das aufgewühlte Meer und den dichten Nebel an jenem Karfreitag, dem 21. April 1916, und wie sie da in dem schaukelnden Boot saßen, jeder ein Ruder in der Hand, während das deutsche U-Boot im Dunst verschwand. »Viel Glück«, hatte Kommandant Raimund Weißbach ihnen zum Abschied zugerufen. Ein entsetzliches Gefühl der Ohnmacht hatte ihn überkommen, als sie inmitten der riesigen Wellen versuchten, die Kontrolle über das Boot zu behalten und es an Land zu manövrieren, ohne genau zu wissen, in welcher Richtung sich das Festland befand. Das Boot wurde emporgerissen und klatschte wieder aufs Wasser, schlingerte um sich selbst,und da keiner von ihnen es beizudrehen vermochte, schlugen die Wellen so heftig gegen die Seiten, dass sie jeden Moment zu kentern drohten. Und schließlich kenterte das Boot tatsächlich. Einige Minuten lang waren sie kurz vorm Ertrinken. Sie schluckten eine Menge Salzwasser, hielten sich aber irgendwie an der Oberfläche, bis es ihnen gelang, das Boot wieder umzudrehen und hineinzuklettern.
Roger erinnerte sich an den tapferen Monteith, an dessen Handverletzung, die er sich bei einem Unfall im Hafen von Helgoland zugezogen hatte, als er ein Motorboot zu lenken versuchte. Sie waren dort an Land gegangen, um in ein anderes U-Boot umzusteigen, weil das U 2, mit dem sie aus Wilhelmshaven gekommen waren, repariert werden musste. Die Wunde an der Hand hatte Monteith während der einwöchigen Fahrt von Helgoland nach Tralee Bay gequält. Roger selbst hatte die ganze Überfahrt mit heftiger Seekrankheit und Übelkeit gekämpft, er war nicht in der Lage, etwas zu essen oder auch nur aus der schmalen Koje aufzustehen. Voller Bewunderung dachte er jetzt an die stoische Geduld, die Monteith trotz seiner schlimm geschwollenen Hand bewiesen hatte. Die entzündungshemmenden Mittel, die ihm die deutschen Matrosen verabreicht hatten, zeigten keine Wirkung. Die Wunde eiterte weiter, und Kommandant Weißbach prophezeite, er werde sich einen Wundbrand zuziehen, wenn er sich nicht direkt nach der Ankunft behandeln ließe.
Zuletzt sah Roger Hauptmann Monteith im Morgengrauen jenes 21. April in den Ruinen von McKenna’s Fort. Seine beiden Gefährten beschlossen, dass Roger sich dort versteckt halten müsse, während sie sich nach Tralee durchschlagen würden, um die Volunteers um Hilfe zu bitten. Sie meinten, Roger würde am ehesten von den Soldaten des Empire erkannt werden und dass er viel zu schwach sei. Roger war krank und am Ende seiner Kräfte, zweimal bereits war er hingefallen und mehrere Minuten bewusstlos liegen geblieben. Seine Freunde schüttelten ihm die Hand und ließen ihn mit einem Revolver und einem kleinen Kleidersack im Fortzurück. Roger erinnerte sich, wie er beim Anblick der zwitschernd durch die Luft gleitenden Schwalben und der wilden Veilchen, die ringsum im sandigen Boden wuchsen, dachte, dass er endlich in Irland angekommen war. Tränen stiegen ihm in die Augen. Hauptmann Monteith hatte sich mit einem militärischen Gruß von ihm verabschiedet. Während der sechs gemeinsamen Monate hatte Roger seinen kleinen, robusten Adjutanten nie klagen hören, nie das geringste Anzeichen von Schwäche an dem agilen, unermüdlichen irischen Patrioten bemerkt, trotz aller Rückschläge, die sie im Lager von Limburg erfahren hatten, wo sie mit den Vorbehalten, wenn nicht der offenen Ablehnung durch die Gefangenen konfrontiert wurden, der Irischen Brigade beizutreten, die Roger bilden wollte, um gemeinsam mit Deutschland (»aber nicht unter deutschem Befehl«) für die Unabhängigkeit Irlands zu kämpfen.
Von Kopf bis Fuß durchnässt, die geschwollene, blutige Hand mit einem Lumpen umwickelt, marschierte Monteith mit müdem Gesicht neben dem hinkenden Feldwebel Daniel Bailey in Richtung Tralee. Roger sah ihnen nach, bis sie vom Nebel verschluckt wurden. Ob sie dort angekommen waren, ohne von den Schutzpolizisten der Royal Irish Constabulary verhaftet zu werden? War es Monteith gelungen, in Tralee Kontakt mit den Leuten der Irish Republican Brotherhood oder den Volunteers aufzunehmen? Er sollte nie erfahren, wann und wo Feldwebel Daniel Bailey festgenommen worden war. Dessen Name war bei den langen Verhören, denen Roger erst in
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