Der Traumkicker - Roman
laufen, die elf Spieler und die Horde von Fans und sogar die Honoratioren in ihren speckigen schwarzen Anzügen und den flatternden roten Krawatten, hetzen wie die Spermatozoen hinter der befruchtungsfähigen Gamete her, wenn Sie sehen könnten, wie diese Pyokokken sich die Lunge aus dem Leib laufen und Jagd machen auf den armen Dreikäsehoch.«
Aber als Marcianito die ersten Häuser der Straße des 18. September erreichte, hatten seine Verfolger nichts mehr zu melden, er schwang sich hinauf auf die Dächer,die er aus dem Effeff kannte (schließlich stieg er ständig abends dort herum und hielt durch die Ritzen im Blech nach nackten Frauen Ausschau), und verlor sich auf der anderen Seite in den Höfen.
Unser Ball hatte sich unterdessen natürlich in Luft aufgelöst, und das Spiel musste abgebrochen werden. Wenig später jagten wir sie, auch um der lieben Gewohnheit willen, mit großem Hallo durch die Ödnis und bis fast vor ihre Haustür.
Während wir dem guten Mann das alles erzählten, wurde der Ball der Bolzer unvermittelt von einem heftigen Tritt ins Seitenaus befördert und verlor sich, vom Wind erfasst, irgendwo zwischen den Unebenheiten des Geländes. Weil der Spieler, der ihn suchen ging, lange nicht wiederkam, rief einer vom Spielfeld zu Expedito González herüber:
»Gib mal deinen so lang!«
Unser Traumkicker winkte mit der Hand ab und schnaubte leise:
»Bin ja nicht wahnsinnig, mein Guter.«
Wie zur Entschuldigung erklärte er uns dann, der weiße Ball sei doch sein Arbeitsgerät und er leihe ihn für nichts in der Welt an jemanden aus. »Er ist wie meine Geliebte«, sagte er, fuhr geradezu wollüstig mit der Hand darüber und meinte, er kenne seine Nähte, seine abgeschabten Stellen und die zweiunddreißig Waben besser als seine Westentasche. Um dieses fast schon obszöne Verhältnis zu bekräftigen, erzählte er uns dann, wie seine Karriere begonnen hatte.
Mit fünf Jahren hatte er in einem der ärmsten Viertel von Temuco seine ersten Kunststückchen mit einem Ball aus Lappen geübt. Dann war er zu einem aus Plastik übergegangen (einem grünen), den er an der Böschung eines Abwassergrabens in der Nähe seines Zuhauses gefunden hatte. Später, er war jetzt sechs Jahre alt, hatte ihm sein Vater zu einem ihrer letzten gemeinsamen Weihnachtsfeste einen Ball aus Gummi geschenkt, so einen mit Sternen drauf. Und er war schon groß gewesen, als ihm bei der ersten Vorführung seines Könnens im Stadion von Temuco die Spieler des Clubs seinen ersten Fußball schenkten, gebraucht natürlich und mit vielen offenen Nähten, aber ein echter Ball. Ein Profiball. Den hatte er über Jahre benutzbar gehalten, seine Nähte ausgebessert und mit Talg eingeschmiert und ihm endlos viele Flicken verpasst. Bis man ihn eines Tages, als das gute Stück vor Altersschwäche endgültig nicht mehr konnte und überall die Seele zum Vorschein kam, zu seinem ersten Fernsehauftritt einlud und ihm diese weiße, damals brandneue Kugel schenkte, die zu seinem ganzen Stolz wurde und die er hütete, als wäre sie ein Teil von ihm. »Mehr als meine Testikel hüte ich die«, murmelte er, und dabei trübte ein eigentümlicher Anflug von Niedergeschlagenheit seinen Blick.
Bei der Rückkehr vom Sportplatz erfuhren wir, dass für den nächsten Tag eine wichtige Gewerkschaftsversammlung anberaumt war. Dort würden die neuesten Neuigkeiten zur Schließung von Coya Sur bekannt gegeben. Die Aussichten waren schlecht und die Leute pessimistisch. Während das Paar auf Einladung von Pata Patas Frau in der Küche des Gewerkschaftshauses einenImbiss nahm, wurde am Tisch über nichts anderes gesprochen. Die Siedlung zu verlassen würde für alle ein herber Schlag sein. Expedito González schien gut aufgelegt, und nachdem er eine Tasse Tee mit Zimt getrunken hatte, wechselte er das Thema und kam auf Fußball zu sprechen.
Noch beeindruckt von seiner ersten Feierabendbolzerei in der Wüste erzählte er, als Kind habe er viel über Fußballhistorie gelesen. Und er tischte uns Geschichten auf, die wir kaum glauben konnten. In grauer Vorzeit habe es im angelsächsischen Raum ein Spiel gegeben, eine Art Massenfußball, »ganz ähnlich wie eure Bolzerei hier«, bei dem ein ganzes Dorf gegen ein anderes antrat. Ein Höllenspektakel ohne Teilnehmerbegrenzung, ohne Schiedsrichter, ohne Spielfeldmarkierung und ohne jede Regel; tatsächlich ein einziges Hauen und Stechen, bei dem, um den Ball ins gegnerische Tor zu befördern, alles erlaubt gewesen sei.
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