Der Tuchhändler (German Edition)
geschleift hatten, als sei er ein seltsamer, gestrandeter Fisch – oder mehr noch, als sei er ein kompakter Haufen Abfall, der endlich beiseite geräumt wurde, weil er die Augen beleidigte. Er hatte ein seltsames Pathos besessen, wie er da auf dem Rücken lag, seine zu Pratzen aufgeschwemmten Hände mit jener halb erstaunten Geste erhoben und sein Gesicht vom Wasser und den scharfen Zähnen der Fische zu einer Monstrosität verformt, die weniger erschrocken als traurig machte und die keinen Hinweis mehr darauf zuließ, ob die Züge häßlich oder fein gewesen waren, und die jegliche Individualität leugnete. Wie hatte der eine der Stadtknechte gesagt? Nicht einmal seine Mutter würde ihn so wiedererkennen.
Der Gedanke, daß der Körper ein unwichtiges, pathetisches Ding war, wenn die Seele ihn verlassen hatte und das Fleisch nicht mehr beschützen konnte, war mir nicht neu. Zu oft war ich in den ersten Monaten nach Marias Tod schreiend aufgewacht, wenn ich mit schrecklicher Realität davon geträumt hatte, wie ihr Leib verfiel; und nicht nur einmal konnte ich mich nur zähneknirschend davon abhalten, mitten in der Nacht zu den beiden Gräbern hinauszutaumeln und stöhnend und schluchzend die Erde beiseite zu scharren, um sie und das Kind davor zu bewahren.
Doch mehr noch als all diese Überlegungen kreiste der Anblick der Schlinge in meinem Kopf herum, deren Rest sich noch tief im Fleisch eingegraben um den Knöchel des Ertrunkenen befunden hatte. Ich war mir sicher, daß seine Füße zusammengebunden gewesen waren. Hatte man ihn erhängt? Aber wie war er dann ins Wasser gelangt? Wenn er ein Verbrechen begangen hätte, wäre er je nach Strenge des jeweiligen Gerichts am Galgen hängen gelassen worden, bis die Raben ihn von der Schlinge gepickt hätten, oder seine Angehörigen hätten ihn nach drei Tagen abnehmen und verscharren dürfen; in den Fluß wäre sein Leichnam aber keinesfalls geworfen worden. Zudem hätte sich das Siegel und die Tonscherben, von denen ich annahm, daß sie zu einem Gefäß für seinen Tintenstein, einen Lappen und ein oder zwei Federn gehört hatten, nicht mehr in seiner Tasche befunden.
Ich dachte an die beinahe unbedeutend wirkende Delle in seinem Hinterkopf. Vielleicht war er überfallen und totgeschlagen und seine Leiche danach in den Ruß gestoßen worden; die Füße konnten sie ihm zusammengebunden haben, weil sie ihn vorher eine Strecke weit befördern mußten. Aber Räuber hätten nicht nur seine Schuhe gestohlen, sondern seine Taschen ebenfalls leergeräumt, wenngleich sie das Siegel vermutlich fortgeworfen hätten: sicher hätten sie es nicht zurück in die Tasche gesteckt. Vielleicht war er auch nur im Vollrausch ins Wasser gerollt und ertrunken, und das Seil hatte sich später um seine Knöchel gewickelt; es lag genug Abfall und Zeug auf dem Grund des Flusses.
Ich vergaß den Toten wieder, denn zu Hause überfiel mich der Verwalter mit der Frage, ob ich wegen der ausbleibenden Stofflieferung etwas herausbekommen habe, und ich erschrak; weniger aufgrund der Tatsache, daß die Lieferung noch immer auf sich warten ließ, sondern weil ich nicht mehr daran gedacht hatte. Ich habe ein Geschäft, dachte ich grimmig, und ich sollte mich eigentlich auch damit befassen. Ich sagte kurz, daß ich mich auf jeden Fall morgen darum kümmern werde, und beendete das Thema. Mein Verwalter leistete mir daraufhin beim Essen Gesellschaft, ohne noch irgendein geschäftliches Gespräch anzufangen. Er war zu taktvoll, um mich zu fragen, ob man schon etwas über den Mörder wisse, und da wir sonst kein gemeinsames Gesprächsthema hatten, verlief das Essen schweigend. Ich ging früh zu Bett und wälzte mich lange Zeit schlaflos darin herum. Zum ersten Mal seit langen Jahren hatte ich das Gefühl wieder, das mich während meiner Dienstzeit für Bischof Peter ständig begleitet hatte: Das Gefühl, in einen wirbelnden Strudel zu blicken und zu erkennen, daß sich darin Muster ausmachen ließen; zu ahnen, daß man nur den richtigen Blickwinkel finden mußte, um die Muster entschlüsseln zu können; und zu wissen, daß man in der Lage war, diesen Blick zu tun. Es war ein Gefühl der Rastlosigkeit, das einen atemlos machte und zugleich mit Freude erfüllte. Wahrscheinlich war es nicht mehr als das: Jagdfieber.
Ich dachte an die Ereignisse, die zu meinem Bruch mit Bischof Peter geführt hatten; die Ereignisse während des mehrjährigen Krieges zwischen Herzog Ludwig und dem Markgrafen Albrecht von
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