Der Tyrann von Hades
Ancor schwieg einen Augenblick. »Sie induzieren wieder Angst.«
»Das tun sie, Maq. Ich kann es fühlen.«
»Dann laß uns versuchen, dagegen anzugehen. Dieses System arbeitet in beide Richtungen, denn ich kann meine Gedanken zu dir übertragen und andersherum. Laß uns versuchen, eine positive Rückübertragung einzuspeisen. Wann war das schönste Mal, daß wir miteinander geschlafen haben, Sine?«
»Ich würde sagen, unmittelbar nachdem wir die Sonne in der Mitte Solanas gesehen haben.«
»Du hast recht. Laß uns beide daran denken. Konzentriere dich ganz auf deine Erinnerungen, Sine.«
»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.«
Ancor spürte ein plötzliches Aufflackern von Angst und Unsicherheit, aber er spürte, daß es synthetischen Ursprungs war und versuchte, es zu ignorieren. Dann konzentrierte er sich voll und ganz auf die Erinnerung an ihr Liebesspiel an jenem Tag, an dem sie zum erstenmal die natürliche Sonne gesehen hatten, die ganz Solaria das Leben schenkte. Bald überwand er die Ängste, die nach ihm zu greifen versuchten; seine eigenen Gefühle wurden von denen Sine Anuras verstärkt, und die klare Erinnerung an die Wogen der Leidenschaft durchfluteten sein Bewußtsein wie die Wellen eines gewaltigen Ozeans. Die namenlosen Ängste versuchten erneut, nach ihm zu greifen und die Liebe aus seinen Gefühlen zu vertreiben. Wäre er allein gewesen, hätte die Furcht vielleicht die Oberhand gewonnen, aber immer, wenn er zögerte, riß ihn Sines wilde Leidenschaft mit sich, und wenn ihre Gefühle in Gefahr schwebten, zermalmt zu werden, gelang es ihm irgendwie, ihr zur Hilfe zu eilen. Auf diese Weise vermochten die beiden, sich gegen die induzierten Gefühle abzuschirmen, und bald darauf versiegte der Strom der synthetischen Ängste.
Dann wurde alles anders. Eine neue, ebenfalls künstliche Emotion verstärkte die Erinnerungen an die Stunde gegenseitigen Vertrauens und Trostes und hob sie auf eine neue Ebene der sensorischen Wahrnehmung. Ancor, der die Verstärkung spürte, bremste seine Phantasie und wußte, daß Sine es ihm gleich tat: Sich über menschliche Empfindungen hinwegzusetzen war schlimm genug, aber keiner von beiden wollte sich an künstlicher Stimulation beteiligen. Für sie zählte nur die Realität.
Trotz ihres freiwilligen Rückzugs wurden die Lustgefühle immer stärker und griffen nach ihren Körpern wie eine mächtige Droge; die Stimulation der Sinne machte fast süchtig. Ancor hörte Sine leise stöhnen, als die Lustzentren ihres Gehirns von den elektrischen Strömen angeregt wurden. Empfindungen, die lustvoller waren als alles, was seine körperlichen Sinne jemals empfinden konnten, drohten ihn wegzuschwemmen. Dennoch blieb ihm ein Vorteil, der Sine nicht vergönnt war: Er hatte die Möglichkeit, seinen Kopf aus dem Block zu heben.
Auch wenn er es sich nur widerwillig eingestand: Er stand vor der schwierigsten Entscheidung, die er jemals hatte treffen müssen. Er konnte sich einer Lust hingeben, die alles in den Schatten stellte, was sein Körper hergab. Aber gleichzeitig ließ der Instinkt des Mörders in seinen Gedanken alle Alarmglocken schrillen und warnte ihn davor, daß er wie ein Drogensüchtiger seine momentane Ekstase mit zukünftiger Abhängigkeit und Erniedrigung würde bezahlen müssen. Als seine Empfindungen einem neuen Höhepunkt entgegenstrebten, traf er seine Wahl. Er hob den Kopf und setzte sich auf, um der unwirtlichen, kalten Realität ins Auge zu sehen.
Jemand schrie: »Bravo!« Dann flammte plötzlich Licht auf, und er starrte durch eine durchsichtige Abdeckung auf den Mann, dem er bereits in der Steuerkabine des Terminals begegnet war. Der Mann blickte von einem Laufsteg auf ihn herunter.
»Nicht viele sind aus demselben Holz wie Sie geschnitzt, Maq Ancor! Die wenigsten vermögen es, aus einer Stimulation der Lustzentren auszubrechen. Was hat Sie dazu veranlaßt?«
»Ich verabscheue Knechtschaft. Was stellen Sie mit uns an?«
»Ich demonstriere Ihnen die Vorteile von EGS und unserer kollektiven Existenz, die uns eine enge Kommunikation ermöglicht. Und Sie teilen unsere Bedürfnisse. Als Sie Ihren Kopf aus der Induktionshaube entfernten, verloren Sie den Kontakt zu Sine Anura. Sie haben Ihren Kopf freiwillig wieder in die Haube gelegt, um den Trost der engen Verbindung zum Bewußtsein eines anderen zu spüren. Sie kletterten den Turm hinunter und wieder hinauf und Sie hatten das Bedürfnis, anderen von Ihrer Erfahrung zu berichten und sie
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