Der Überlebende: Roman (German Edition)
hervorgezogen. Auf der Seite, die aus dem Angebot von D’Wolf stammte, wurden die Schnittstellen zwischen den Steuerungen und den Maschinen der Y AG beschrieben. Er zeigte mit dem Finger auf eine Spalte, über der stand: Implementierte Protokolle
Seufzend sagte er, die Y AG benutze diese Protokolle praktisch nie. In neunundneunzig Prozent aller Fälle verwende die Y AG ihr firmeneigenes Protokoll.
Vor der Erstellung des Angebots hatte unser Vertriebsmann einen Mitarbeiter im Einkauf der Y AG angeschrieben, die Schnittstellen sähen serienmäßig die in der Spalte aufgeführten Protokolle vor, ob das für die Y AG in Ordnung gehe oder ob sie andere Protokolle wolle. Er konnte sich nicht mehr an den Namen des Einkaufsmitarbeiters erinnern, aber im Nachhinein glaubte er, es sei der Dicke gewesen. Der mailte ohne weiteren Kommentar »OK« zurück. Daran konnte sich der regionale Vertriebsbeauftragte ganz sicher entsinnen, aber er war nicht in der Lage, es zu belegen. Am selben Tag hatte er sich trotz der sehr wirksamen Firewalls von D’Wolf einen Virus eingefangen, alle an diesem Tag geänderten Daten waren verlorengegangen, darunter auch die besagte Mail.
Er starrte auf das Blatt Papier und traute sich nicht, dem Mann mit dem Pferdeschwanz ins Gesicht zu blicken. Was sollte er machen. Die Y AG war der Kunde, er konnte nicht sagen, dass der Kunde einen Fehler gemacht hatte. Er wollte nicht sagen, dass er selber einen Fehler gemacht hatte, das war nicht richtig. Auf die naheliegende Lösung, die Sache einfach als Missverständnis anzugehen, kam er in seiner Panik nicht, denn er wusste, was es bedeutete, wenn das Angebot fehlerhaft war. Erst als er ein Klicken hörte, blickte er doch auf. Was er dann sah, konnte er kaum glauben: Mit einem goldenen Feuerzeug zündete sich der andere eine Zigarette an. Die Mitglieder unseres Teams hatten sich gar nicht vorstellen können, dass der Einkaufsvorstand Raucher in seinem Team oder überhaupt in seinem Ressort duldete. Jetzt lachte der andere, aber nicht wohlmeinend, sondern wie jemand, der eine Hinrichtung angeordnet hat und mit Befriedigung verfolgt, wie dem Todeskandidaten die schwarze Kapuze übergezogen wird. Der regionale Vertriebsbeauftragte stammelte, es sei nur ein Übertragungsfehler, selbstverständlich würde D’Wolf auch das firmeneigene Protokoll der Y AG anbieten, es werde keinen Unterschied im Preis machen.
Der Y-Mann zog lange an der Zigarette, atmete tief ein und blies den Rauch dem D’Wolf-Mann ins Gesicht. Er glaube nicht, dass das ein Fehler sei. Der D’Wolf-Mann ließ das Blatt fallen, beide bückten sich, der Y-Mann war schneller. Bei den Sitzungen im Hotel saß er stets neben dem Eingang, verließ ein weibliches Mitglied des Teams von D’Wolf den Raum, sprang er jedes Mal behänd auf, um die Tür aufzuhalten.
Die Y AG könne das Risiko nicht eingehen, dass sich D’Wolf erst jetzt mit dem Protokoll beschäftige, dazu sei der Zeitplan zu anspruchsvoll. Die ersten Lieferungen seien schon in wenigen Wochen vorgesehen. Elastisch wandte sich der Dicke ab und ließ den regionalen Vertriebsbeauftragten allein. Der lief auf die Straße und nahm ein Taxi nach Hause. Er wusste, was es für seine Karriere bedeutete, wenn D’Wolf den Auftrag nicht bekam, weil er einen Fehler gemacht hatte. Er konnte nicht beweisen, dass er keinen Fehler gemacht hatte.
Die Abschlussbesprechung sollte am Nachmittag stattfinden, der Vormittag war frei. Sondra schlug Peter vor, den Pool auf dem Dachgarten des Hotels zu besuchen – erzählte Peter später. Die Glaswände waren hochgefahren, Peter und Sondra die Einzigen, die den trüben Vormittag dort verbrachten. Sondra setzte sich auf ihre Liege, schaltete das Notebook an, drehte Peter den Rücken zu und zog ihr Bikinioberteil aus. Der Kellner, der fragte, ob sie etwas trinken wollten, tat, als nehme er es gar nicht zur Kenntnis.
Ihre Schultern waren viel breiter, als er in Erinnerung hatte – Peter korrigierte sich: Ihre Schultern waren viel breiter, als er erwartet hatte. Sondra trug eine türkisfarbene Sonnenbrille mit sehr dunklen ovalen Gläsern, die zu den Schläfen hin hochgezogen waren, eine Form wie aus den fünfziger Jahren.
Als sich Peter und Sondra zum Gehen bereit machten, erhielten sie doch noch Gesellschaft. Ein etwa zehnjähriger Junge in einer gelben Badehose stürmte aus dem Lift, als wolle er sofort ins Wasser springen. Unvermittelt hielt er inne, wohl weil er bemerkt hatte, dass noch jemand anderer
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