Der ungeladene Gast
das Glas weiter.«
Clovis musste sich über den Tisch beugen, um an dem Glas zu nippen, und reichte es anschließend nach links weiter, an Florence.
»Vorsicht«, sagte er, den süßen Geschmack des Portweins auf den Lippen.
Florence hatte ihr Misstrauen und ihre Abneigung gegen Traversham-Beechers völlig vergessen. Es war lange her, seit sie sich zum Essen an einen Tisch gesetzt hatte, und noch länger, seit sie es in einem Speisezimmer getan hatte. Sie hatte auch ihr steifes schwarzes Seidenkleid vergessen und fast das Gefühl, wie die anderen Frauen herausgeputzt zu sein und gemeinsam mit ihnen einen geselligen Abend zu verbringen. Ihre Dankbarkeit war tief und bedürftig.
»Er interessiert sich für Medizin, und das ist ein langweiliger Beruf«, sagte sie schnell, in der Hoffnung, nicht aufzufallen, und auch sie beugte sich vor, um von dem Portwein zu nippen, der süß und klebrig war und leise auf ihrer Zunge brannte. Dann reichte sie das Glas weiter
Ernest brachte es nicht über sich, in Bezug auf seinen geliebten Beruf mit »Schuldig« zu antworten. Daher nickte er bloß und begann, an andere Dinge zu denken (wie stark die seidenen Fäden von Spinnennetzen waren, was Penicillin alles bewirken konnte). Neben ihm rutschte Patience vor lauter Besorgnis auf ihrem Stuhl hin und her. »O nein«, sagte sie. Und: »Ich sehe nicht ein, wieso!«
Als Nächster war John an der Reihe. Er hatte sich nicht auf dem falschen Fuß erwischen lassen wollen, hatte sich nicht als Emporkömmling der Lächerlichkeit preisgeben wollen und sich bereits im Vorhinein etwas ausgedacht. Er nahm das Glas, hielt es und sagte mit fester Stimme: »Mr Sutton ist nicht beliebt. Er hatte keine Dame, die er zum Essen führen konnte.«
Er musste zugeben, dass es ihn freute, diese Feststellung treffen zu können. Emerald hatte seinen Arm genommen, was bewies, dass er Ernest als Rivalen nicht ernst zu nehmen brauchte.
Ein leises Auflachen und das ein oder andere »Oh« waren die Antwort auf seine Bemerkung. Er war froh, Eindruck gemacht zu haben, trank und reichte das Glas an Emerald weiter.
»Kein Liebestrunk, sondern ein entzweiender«, sagte sie. Sie hatte das Spiel bis zu diesem Augenblick nicht gemocht, obwohl sie sich gleichzeitig auch hingezogen fühlte. Noch klammerte sie sich an irgendeiner moralischen Überzeugung in ihr fest, die ihr quengelnd ans Herz legte, nicht an einem solchen Spiel teilzunehmen. Doch nun, als sie das Glas in der Hand hielt und die Augen der anderen auf sich spürte, während die leisen, anrüchigen Lieder der ungehobelten Besucher zu ihr getragen wurden, dachte sie: Ernest macht sich nichts daraus, es ist schließlich nur ein Spiel.
»Nun mach schon, Em«, sagte Clovis so ungeduldig, dass sie zusammenschrak.
Aber ihr wollte um nichts auf der Welt einfallen, was sie sagen konnte. Ernest selbst schien sich nur für irgendetwas an der Wand hinter ihrem Kopf zu interessieren.
Sie betrachtete ihn, zermarterte sich den Kopf. Charlie Traversham-Beechers fing an, rhythmisch auf dem Tisch herumzutrommeln – tap tap tap-tap-tap, tap tap tap-tap-tap –, kurz darauf fiel Clovis ein, dann auch John …
»Na los«, flüsterten sie, »na los …«
Emerald wollte Ernest nicht zu lange ansehen, weil es sie zum Erröten brachte. So beiläufig sie konnte, registrierte sie seine markante Wangenlinie, seine kühne Stirn. Sprachlos nahm sie die aufrichtige Stille wahr, die ihn umgab; seine Hände; wie gerade seine Schultern waren. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Kind Ernest ins Lächerliche zu ziehen (nicht dass sie das je gewollt hätte), aber dieser Erwachsene war in jeder körperlichen Hinsicht unnahbar. Rund um sie herum wurde das Trommeln lauter.
»Na los, na los«, sagte Charlie. »Oder geben Sie das Glas weiter, ohne zu trinken. Geben Sie es weiter, geben Sie es weiter …«
Hitzig sah Emerald zu Ernest hinüber, der absolut kühl wirkte und sie überhaupt nicht beachtete. Ihr Herz raste, hämmerte in ihrem Inneren. Die Intensität, mit der sie sich zu ihm hingezogen fühlte, mischte sich mit der Angst, sich lächerlich zu machen, und schwächte sie. Ihre Verlegenheitsröte schien jeden Teil von ihr zu erfassen; ihr Zustand musste für jeden sichtbar sein – bei diesem Gedanken zuckte sie innerlich zusammen. Wieso bloß sah er sie nicht an? Wieso saß er so feierlich da, so zurückhaltend, so still? Sie sehnte sich danach, eine Reaktion aus ihm herauszuschütteln. Sie dachte an sein unnatürliches Interesse
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