Der ungeladene Gast
völlig wirren Strähne hinter ihrem Ohr. Ernest zog ihn heraus und reichte ihn ihr.
»Danke«, sagte sie, ließ ihn auf den Schreibtisch neben ihrer Tür fallen und folgte ihm. Ein Chor von Stimmen begleitete sie aus der Ferne.
Clovis und John kamen aus der anderen Richtung auf sie zu, Clovis ein Stück hinter John, der ihn so barsch aus seinem Zimmer kommandiert hatte, wie man es höchstens bei einem Hund tat. Clovis war sich zutiefst bewusst, wie beschämend und demütigend das, was Traversham-Beechers gesagt hatte, für sie alle war.
»Ich kann nicht in meinem Zimmer bleiben«, sagte Emerald, zu John, aber der schien nicht mit ihr reden zu wollen.
»Dann sollten wir auch Patience holen«, sagte Clovis abrupt und gleichzeitig befangen.
Es war jedoch nicht nötig, Patience zu holen. Sie hatte ihre Stimmen gehört und erschien von selbst. Umsichtigerweise hatte sie sich umgezogen und trug nun ein schlichtes Sergekleid. Sie war für jede Unternehmung gerüstet.
»Patience, es tut mir so leid«, sprudelte Emerald hervor, und Clovis schloss sich ihrer Entschuldigung mit rauer, kaum hörbarer Stimme an, worauf Patience knapp antwortete: »Lasst uns nicht mehr darüber reden. Dieser Trivering-Beeching ist der Übeltäter, nicht ihr.«
Plötzlich ertönte hinter ihnen eine laute Stimme – die Stimme einer Frau –, die aus voller Kehle schmetterte:
Daisy! Daisy! Give me your answer do!
I’m half crazy! …
Aber als sie sich umdrehten, war niemand zu sehen. Der Korridor war leer.
»Ach du meine Güte«, sagte Patience. »Mrs Swift?« Und sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um nach ihr zu sehen.
Clovis, der sich wieder gefasst hatte, klopfte an ihre Tür. »Mutter?«
Schweigen.
»Du solltest aus dem Zimmer kommen«, sagte Emerald leise zu der hölzernen Tür vor sich. »Die Passagiere laufen überall im ganzen Haus herum. Wir müssen ihrer Herr werden. Weißt du, wo …?« Sie brachte Traversham-Beechers’ Namen nicht über die Lippen, nicht nur, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, sondern vor allem, weil allein der Gedanke an den Mann ihr so zuwider war. »Weißt du, wo der andere Gast abgeblieben ist? Mutter?«
Hinter der Tür war kein Geräusch zu hören.
»Mrs Swift?«, rief Ernest.
»Ja, ich bin hier. Aber ich komme nicht zu euch«, lautete die entschlossene Antwort der Hausherrin.
»Ich finde, du solltest«, sagte Emerald.
»Ich komme trotzdem nicht.«
Die anderen blieben einen Moment stehen, in Gedanken bei der skandalösen Vergangenheit der Frau, die sich weigerte, zum Vorschein zu kommen, ganz zu schweigen davon, wie unleidlich sie sein konnte.
»Niemand von uns ist gerne hier!«, schrie John, der sich nicht mehr beherrschen konnte, die störrische Tür an. »Ich zumindest nicht. Ich hätte nicht übel Lust, Sie alle zusammen Ihrem Schicksal zu überlassen. Wie es aussieht, haben Sie sich das alles selbst zuzuschreiben!«
»Um Himmels willen, Mann!«, sagte Ernest.
»Geht weg«, sagte Charlotte hinter der Tür.
»Schließen Sie wenigstens ab, Mrs Swift!«, legte Ernest ihr noch ans Herz, bevor sie sich entfernten.
Charlotte hörte ihre Schritte immer leiser werden. Die Tür war bereits abgeschlossen. Sie hatten sie dabei unterbrochen, wie sie, ihr Taschentuch zerknüllend, im Zimmer auf und ab gelaufen war und spitzenbesetzte Kleidungsstücke in einem Versuch, sie zu packen, im ganzen Zimmer verstreut hatte. Auf dem Bett lag ein Koffer. Ein Schrankkoffer, aus dem Ankleidezimmer herbeigezerrt, stand offen auf dem Boden davor. Beide waren bis zum Bersten gefüllt. Auch ihr Schmuck, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, war gepackt. Sie konnte die Lieder und das gelegentliche Geschrei der Passagiere hören, aber beides kümmerte sie keinen Deut. Die Passagiere waren ihr völlig egal. Sollten sie doch verrotten, dachte sie. Dem Gestank nach zu urteilen, der unter ihrer Tür hindurchdrang, taten sie das bereits.
Sie unterbrach ihr hektisches Treiben, trat ans Fenster und krallte die Hand in die Troddeln des Vorhangs.
Sie war ein für alle Mal ruiniert. Das Einzige, was ihr noch blieb, war die Flucht. Am Morgen, vor der Rückkehr ihres Mannes, würde sie sich unauffällig davonschleichen. Beim Gedanken an den unerschütterlichen, ehrbaren Edward Swift mit seinen glatt rasierten, hellhäutigen Wangen und dem ordentlich festgesteckten Ärmel stieß sie ein unwillkürliches Ächzen aus. Beim Hinausblicken sah sie nur ihr eigenes blasses Spiegelbild. Wenn doch nur Robert,
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