Der verborgene Stern
das Museum zu.“
„Und was sollen wir bis Dienstag machen?“
„Wir könnten sämtliche Telefonbücher durchgehen. Ich frage mich, wie viele Gemmologen es wohl in der Umgebung gibt …“
Mit der neuen Brille konnte Bailey sich endlich in die Bücher vertiefen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen. Und das tat sie. Stundenlang. Es war, als ob man nach Jahren wieder in einem heißgeliebten Märchenbuch lesen durfte. Obwohl alles bekannt war, machte es Spaß, jede Geschichte noch einmal ganz neu zu entdecken.
Bailey las über die Hintergründe der Intaglio-Technik in Mesopotamien, über Edelsteine der hellenischen Periode, über florentinische Gravuren. Sie las von weltberühmten Diamanten, dem Großmogul etwa, einem der größten Diamanten überhaupt, der seit Jahrhunderten verschollen war. Sie las technische Erläuterungen über das Identifizieren und Schleifen von Edelsteinen, über Reinheit und Farbe, über Facetten und optische Eigenschaften.
Warum nur konnte sie sich an Steine, nicht aber an Menschen erinnern? Ohne Probleme hätte sie die typischen Merkmale von Hunderten von Edelsteinen und Kristallen aufzählen können. Aber es gab nur einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt, den sie kannte.
Und das war nicht einmal sie selbst.
Sie kannte nur Cade. Cade Parris mit seinem scharfen Verstand. Cade mit seinen sanften, geduldigen Händen und den umwerfenden grünen Augen. Augen, die sie ansahen, als ob sie der Mittelpunkt seiner Welt wäre.
Und doch war seine Welt im Vergleich zu ihrer so riesig, sie war von Menschen bevölkert, von Erinnerungen, von Orten, die er besucht hatte, und von Dingen, die er getan hatte. Ein Leben voller Momente, die er mit anderen teilte.
Und sie kannte keinen einzigen Menschen, den sie liebte oder vielleicht sogar hasste. Wurde sie von irgendjemand geliebt? Wurde sie gehasst? Hatte sie jemanden verletzt, war sie verletzt worden? Wo kam sie her, was hatte sie getan?
War sie Wissenschaftlerin? Oder Diebin? Hatte sie einen Liebhaber, oder war sie ganz allein auf der Welt?
Sie wollte einen Liebhaber. Genau genommen wollte sie, dass niemand anderes als Cade ihr Liebhaber war. Es war beängstigend, wie sehr sie das wollte. Wie sehr sie sich danach sehnte, mit ihm im Bett zu liegen und einfach alles zu vergessen. Er sollte sie berühren – richtig berühren. Sie verzehrte sich danach, seine Hände auf ihrer nackten Haut zu spüren, sie wollte, dass er sie an einen Ort brachte, an dem die Vergangenheit nichts bedeutete und die Zukunft unwichtig war.
Wo es nur diesen Moment gab, diesen maßlosen, herrlichen Moment.
Und sie würde ihn anfassen, würde die starken Muskeln spüren, wenn er sich auf sie legte. Sein Herz würde gegen ihres schlagen, und sie würde sich ihm entgegenheben, um ihn in sich aufzunehmen. Und dann …
Sie schrak zusammen, als er ihr das Buch aus der Hand nahm und es zuklappte.
„Mach mal eine Pause“, forderte Cade. „Sonst fallen dir noch die Augen aus dem Kopf.“
„Oh, ich …“ Guter Gott. Von ihren Fantasien war sie so erregt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihr Puls schlidderte wie Schlittschuhe über holpriges Eis. „Ich habe nur …“
„Was ist denn los? Du wirst ja ganz rot.“
Er griff nach der Karaffe mit Eistee. Hinter seinem Rücken verdrehte Bailey die Augen. Rot? Kapierte dieser Mann denn nicht, dass sie im Grunde nichts anderes wollte, als von ihm gehalten zu werden? Dass sie vor Sehnsucht nach ihm fast verging?
Er schenkte ihr ein Glas Eistee ein, dann öffnete er sich ein Bier. „Wir haben für heute genug gearbeitet. Ich hätte Lust, ein paar Steaks auf den Grill zu legen. Lass uns herausfinden, ob du auch ein Talent für Salate hast. Hey!“ Er streckte die Hand aus, um das Glas festzuhalten, das er ihr gereicht hatte. „Du zitterst ja. Du hast dich überanstrengt.“
„Nein, ich …“ Sie konnte ihm ja kaum sagen, dass sie gerade ernsthaft darüber nachgedacht hatte, ihm vor Lust in den Hals zu beißen. Behutsam zog sie die Brille ab, klappte sie zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch. „Vielleicht ein bisschen. Ich habe so viel im Kopf.“
„Ich kenne das perfekte Gegenmittel gegen Grübeln.“ Er nahm sie bei der Hand und zog sie durch die Tür nach draußen in die Wärme. Die Luft war schwer vom Duft der Rosen. „Eine halbe Stunde Nichtstun.“
Er stellte ihr Glas und sein Bier auf den kleinen schmiedeeisernen Tisch neben der Hängematte, die zwischen zwei alte Bäume gespannt war. „Komm, schauen wir
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