Der Verehrer
noch nie zu Gesicht bekommen.
Leona sagte, sie sei die Schwägerin. Sie sandte ein stummes Gebet zum Himmel, ehe sie ging. Sie verspürte das kindische Bedürfnis, Gott einen Handel anzubieten für den Fall, er ließe Paul am Leben. Sie könnte Geld für Bedürftige spenden oder weniger an ihr Wohlergehen denken oder sonst etwas. Sie ließ es bleiben. Sie glaubte nicht, daß Gott so einfach zu bestechen war.
Bernhard wartete schon, als sie in dem Lokal eintraf. Sie war froh, ihn zu sehen. Ein Mensch, der Robert auch kannte. Wirklich kannte. Allen Menschen gegenüber, sogar ihren Eltern, fühlte sich Leona allein, was Robert anging. Sie stand hier, belastet mit der furchtbaren Beziehung, die sie eingegangen war und von der sie den Eindruck hatte, sie habe sie bereits gezeichnet fürs Leben. Die anderen standen jenseits einer unsichtbaren Grenze, die das Grauen von der Normalität trennte. In der Welt der anderen gab es Eheprobleme, Sorgen um Kinder und Beruf. Es gab keine geistesgestörten Mörder. Die gab es in ihrer, Leonas, Welt. Es war ihr, als sei sie dadurch lebenslänglich abgeschnitten von aller Alltäglichkeit.
Sie berichtete Bernhard, was geschehen war, erzählte von dem Überfall auf Paul und dem Mord an Millie und davon, daß Weissenburger geheimnisvoll angedeutet hatte, möglicherweise gehe ein weiteres Verbrechen auf Roberts Konto. Bernhard war schockiert. »Ich wußte, daß etwas nicht stimmt mit ihm. Aber so weit wäre ich in meinen schlimmsten Befürchtungen nicht gegangen.«
»Mein Mann und ich haben Polizeischutz bekommen«, sagte Leona, »was bedeutet, daß jede Stunde eine Streife bei uns vorbeifährt – ab halb sieben, wenn ich daheim bin. Am Wochenende auch tagsüber. Meiner Ansicht nach wissen die bei der Polizei genau, daß dies keine ausreichende Sicherheit gewährleistet, aber sie müssen ihre Pflicht tun. Wenn dann etwas passiert, kann ihnen niemand einen Vorwurf machen.«
»Sie sollten gar nicht mehr in diesem Haus bleiben, Leona. Ich halte das für zu gefährlich.«
»Wo soll ich denn hin?«
»Ihre Familie …«
»Nie!« Leona hob abwehrend beide Hände. »Meiner Familie hetze ich diesen Irren nicht auf den Hals! Er weiß genau, wo sie lebt, und wäre sofort da. Es reicht, daß Paul mehr tot als lebendig im Krankenhaus liegt. Das gleiche darf keinesfalls meinen Eltern und Schwestern passieren!«
»Ich glaube nicht, daß er sich an den Mitgliedern Ihrer Familie vergreifen würde«, meinte Bernhard. »Alles, was wir über ihn wissen, zeigt doch, daß sich sein Haß sehr unmittelbar gegen die Menschen richtet, von denen er glaubt, daß sie ihm etwas angetan haben. Die Frau in Ascona hat ihn bei Ihnen verpfiffen. Ihren Schwager hielt er für Ihren Liebhaber – für den Mann also, der ihm die Frau endgültig wegnimmt. Er ist geisteskrank, Leona, aber er geht nicht wirr, sondern gezielt vor. Ich nehme an, das muß er schon deshalb, um seine Taten vor sich rechtfertigen zu können. Auf seine Art, so absurd das klingt, hat er bestimmt einen Moralkodex, dem er folgt.«
»Trotzdem kann ich es nicht riskieren, zu meiner Familie zu gehen. Ich weiß ja nicht, was er sich in seinem kranken Hirn alles zurechtlegt. Plötzlich sind alle an irgend etwas schuld. Das wäre zu gefährlich.«
»Es muß doch einen Ort geben, wo Sie hinkönnen!«
Sie lachte, mühsam und hilflos. »Für wie lange, Bernhard? Für wie lange soll ich mich aus meinem Leben ausklinken und irgendwo verstecken? Urlaub nehmen, untertauchen … bis wann? Soll ich für vier Wochen verschwinden, für ein Jahr, für zwei Jahre?«
»Gegen ihn läuft ein Haftbefehl. Sie fahnden nach ihm. Sie werden ihn fassen.«
Genau das sagte Wolfgang auch immer. Abends, wenn sie zusammensaßen und versuchten, so zu tun, als sei alles ganz normal. Als sei es normal, kein Fenster gekippt, keine Tür offenstehen zu lassen. Wenn sie die Vorhänge zuzogen, kaum daß die Dunkelheit so weit fortgeschritten war, daß man das Licht einschalten mußte.
»Wir brauchen hier nicht bei voller Beleuchtung wie auf einem Präsentierteller zu sitzen«, sagte Leona dann, »vielleicht …«
Sie mußte den Satz nie beenden. Wolfgang wußte auch so, was sie meinte. Vielleicht stand Robert da draußen. Vielleicht war er schon wieder ganz nah.
»Er wird schwer zu fassen sein«, sagte sie nun auf Bernhards Worte hin. »Sie kennen ihn doch: Er ist hochintelligent. So schnell wird er ihnen nicht in die Falle laufen.«
»Ganz dumm ist die Polizei aber auch nicht.
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