Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Fall begegnen.«
»Lebt wohl, Alessandra. Viel Glück.«
Ich stieg in den Sattel und ergriff die Zügel. »Eine letzte Frage: Mit wem außer Euch hat Luca in Ferrara gesprochen?«
»Mit Ludovico Scarampo.«
Mein Gott!, dachte ich, als ich mich der nahezu unleserlichen Unterschrift ›Patri...‹ auf dem blutgetränkten Brief entsann. Hatte er das Todesurteil verfasst? In Alexandria hatte ich diesen Gedanken verworfen. Doch konnte ich den Erzbischof von Florenz und Patriarchen von Aquileia wirklich von der Liste der Verdächtigen streichen?
»Ich bin Euch sehr dankbar«, verabschiedete ich mich. »Wir sehen uns in Florenz.«
»Darauf freue ich mich schon!«, lächelte er. »Alessandra, in den nächsten Tagen müsst Ihr zu mir zum Essen kommen und von Euren Abenteuern berichten! Gewiss habt Ihr einen spektakulären Fund gemacht - sonst wärt Ihr nicht so schnell und unerwartet zurückgekehrt. Was ist es? Ein antiker Papyrus?« Er warf einen Blick auf die prall gefüllten Satteltaschen unseres Maultiers, in denen sich die Pergamentcodices aus der versunkenen Synagoge sowie das fünfte Evangelium befanden.
Ich lächelte geheimnisvoll. »Ich komme gern.«
Dann wendete ich mein Pferd und folgte Tayeb im Galopp die Straße hinauf - gerade noch rechtzeitig, bevor der Papst mich erkennen konnte.
Tayeb und ich hatten in der letzten Nacht nur zwei Stunden geschlafen, und ich war zum Umfallen müde, doch ein Gedanke trieb mich vorwärts:
Was war mit Luca?
Kapitel 10
›... und Jesus heißt auf Hebräisch Jeschua, was bedeutet: Gott errettet‹, schrieb ich mit kratzender Feder die letzten Worte des Prologs nieder. ›Das hebräische Wort Jeschua bedeutet: die Erlösung.‹
Ich steckte die Feder ins Tintenfass und starrte auf die holzgeschnitzte Figur des Gekreuzigten an der Wand gegenüber meinem Schreibtisch. Sein im Leiden geneigtes Gesicht unter der Dornenkrone. Seine ans Kreuz genagelten Arme. Sein nackter, vor Schmerzen sich windender Körper. Die furchtbaren Geißelwunden. Das Blut, das viele Blut!
Jeschua - der Erlöser.
Beruhte denn die gesamte Theologie des Paulus vom Sühneopfertod des Gottessohnes zur Vergebung der Sünden auf der Auslegung seines Namens?
Seufzend fuhr ich mir über das Gesicht. Seit ich nach meinem Besuch in Lucas Palazzo nach San Marco zurückgekehrt war, hatte ich an meinem Buch über Paulus gearbeitet. Ich hatte den Prolog beendet, der nun auf Lucas Schreibtisch lag. Mit dem Schreiben hatte ich mich ablenken wollen, denn ich war zutiefst beunruhigt: Wer war der schwarze Mönch? Warum verfolgte er mich?
Frierend rückte ich meinen Stuhl näher an das glühend heiße Kohlenbecken neben mir, zog einen neuen Bogen Pergament zu mir heran, griff mit steifen Fingern zur Feder und begann das erste Kapitel meines Buches:
»Um verstehen zu können, wer Jeschua wirklich war, was er als pharisäischer Rabbi predigte und wie er als gesalbter König Israels das Reich Gottes errichten wollte, müssen wir zuerst Paulus kennenlernen, den Begründer des Christentums als Kult des Gottessohnes Jesus Christus, den Erfinder der Erlösungstheologie, den Erschaffer des Mythos Christus.
In Tarsos, einer der größten Städte des römischen Reiches, wuchs Paulus in einer hellenistischen Gemeinde der jüdischen Diaspora auf. Mit dem gnostischen Glauben scheint er vertraut gewesen zu sein ...‹
Die Feder war stumpf geworden. Während ich die Spitze mit dem Federmesser zurechtschnitt, warf ich einen Blick auf die Folianten, die sich vor mir stapelten. Die Kirchenväter hatten abgestritten, dass Paulus ein Gnostiker gewesen war. Sie argumentierten, Paulus habe sich der gnostischen Sprache nur bedient, um die Gnostiker zu widerlegen. Doch hatte Paulus nicht selbst geschrieben, dass er sein Evangelium nicht durch einen Menschen, sondern durch eine Offenbarung von Gott selbst empfangen habe? Und wieso verehrten Gnostiker im zweiten Jahrhundert Paulus als großen Inspirierten, wenn er kein Gnostiker war?
Ich tauchte die gespitzte Feder in die Tinte und vollendete meinen Gedanken: ›Mit dem gnostischen Glauben scheint er vertraut gewesen zu sein, ebenso wie mit den orientalischen Mysterienkulten wie dem des gekreuzigten und wiederauferstandenen Dionysos, dem Gottessohn, dem mit einem kultischen Mahl als Erlöser gehuldigt wurde.
Wann Paulus von Tarsos nach Jerusalem zog, ist ungewiss. Wann hatte er den Tempel zum ersten Mal betreten? Wann hatte er den Hohen Priester kennengelernt, als dessen Agent er
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