Der vergessene Strand
eine traurige Geschichte. Mit Penelope ist er seit fünf Jahren zusammen. Sie ist meine Tante.»
Dass man auch im hohen Alter noch mal so viel Glück haben konnte … Amelie schluckte. Sie stellte sich vor, wie Michael und sie wohl in dreißig Jahren wären, aber da war irgendwie … nichts. Sie sah nur, wie sie beide alt und grau am selben Küchentisch im selben Haus saßen. Wie er danach in sein Arbeitszimmer ging und sie in ihres. Wie sie beide die Regalborde mit den Büchern immer breiter wachsen ließen.
War das ein Leben?
Sicher. Es wäre ihr Leben. Damit könnte sie glücklich werden.
Zumal sie nicht einen Schritt tanzen konnte.
Atemlos plumpste Penelope neben Amelie auf die Bank und wäre fast nach hinten gekippt. «Du meine Güte!», schnaufte sie glücklich. «So hab ich nicht mehr getanzt, seit ich zwanzig war.»
Cedric nahm Amelies Hände und zog sie hoch. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich von ihm führen. Die Musik war eine wunderschöne Mischung aus Altem und Neuem. Und er zeigte ihr, dass man auch zu «Arcade Fire» tanzen konnte.
«Alles in Ordnung?», fragte er sie.
Amelie summte leise mit und nickte. Sie schloss die Augen. Jetzt will ich mir keine Sorgen machen, dachte sie. Jetzt will ich tanzen.
Morgen wollte sie überlegen, was zu tun war. Und das war ein beruhigender Gedanke. Sie ließ sich von der Feierstimmung trösten, vom Kuchen und den Menschen, die sie in den Arm nahmen.
Kurz nach Mitternacht war sie zu müde für dieses Fest, und schweren Herzens ließ sie sich von Mathilda in ihr Zimmer bringen. Die Musik wurde leiser gedreht, die Stimmen klangen gedämpft zu ihr herauf. Vom Bett aus sah sie, wie die Lampions im Wind tanzten. Und Leonard Cohen sang sie in den Schlaf.
Mathilda war um sieben schon auf und stand in der kleinen Küche, in der sie für das Restaurant und ihre Pensionsgäste kochte. Gut gelaunt räumte sie die Spülmaschine ein. Auf dem Tisch standen, säuberlich eingetuppert, die Reste vom Fest. Von der Torte war nicht ein Krümel übriggeblieben.
«Frühstück?», fragte sie Amelie, die in die Küche getreten war.
Amelie nickte. Trotz so viel Kuchen zu später Stunde hatte sie einen Bärenhunger.
«Du siehst auch schon besser aus. Gestern Abend hab ich mir Sorgen gemacht.»
«Ich war einfach nur überrascht.»
«Wegen Felicity.»
Amelie nickte.
Mathilda setzte sich zu ihr.
«Das mit den beiden ist merkwürdig», sagte sie nachdenklich. «Felicity ist Dokumentarfilmerin. Viel unterwegs. Die meiste Zeit bleibt Dan allein. Sie war schon mal sechs Monate weg, da haben wir uns alle gefragt, ob sie sich getrennt hätten. Er macht nicht den Eindruck, als würde er sie vermissen. Und sie ist ein freies Vögelchen.»
«In seiner Wohnung sieht man nicht, dass es sie gibt.» Amelie senkte den Kopf. «Aber ich hab auch nie danach gefragt.»
«Ach je.» Mitfühlend streichelte Mathilda ihren Arm. «Du Arme.»
Amelie schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht seinetwegen hier. Ich brauche ein Zimmer, aber ich hab ja gedacht, ich komme bei ihm unter. Das Geld geht mir irgendwann aus, und ich muss mir vielleicht in ein paar Wochen eine eigene Wohnung suchen.» Jetzt überkam sie ein Gefühl der Hilflosigkeit, und sie fuhr sich müde mit den Händen durchs Gesicht. «Verdammt, was mache ich denn hier? Ich könnte es doch so einfach haben. Michael tut alles für mich, wenn ich ihn nur darum bitte.»
Mathilda verstand vermutlich nicht alles, was sie sagte. Aber sie spürte es, wenn jemand Trost brauchte. Sie rückte näher, legte den Arm um Amelies Schulter und gab die einzige Antwort, die es in dieser Situation geben konnte: «Du machst das einzig Richtige, Amy. Du gibst nicht auf.»
Sie nahm ihre täglichen Besuche in der Bibliothek wieder auf. Cedric freute sich, sie wieder bei sich zu haben. Er kochte ihr Tee, und sie durfte so viel mit den Ingwerkeksen krümeln, wie sie wollte. Damit sie oben in den Bibliotheksräumen nicht länger gestört wurde, wies er ihr ein wunderschönes Zimmerchen im Souterrain zu. Bis auf Tisch und Stuhl stand nichts darin. Sie konnte von dort direkt ins Archiv gehen, und vor dem Fenster stand eine Kastanie.
Es wurde tatsächlich Sommer in Pembroke. Die Tage waren warm, die Nächte angenehm kühl. Abends saß man lange draußen vor der Tür oder im Garten. Amelie brauchte weniger Schlaf. Dafür war ihr Bedürfnis nach Bewegung gewachsen. Jeden zweiten Tag lief sie den weiten Weg zum Strandhaus. Beim dritten Mal nahm sie
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