Der vergessene Templer
angebrochen. Da fuhren viele Schiffe noch halb leer, aber die Touristen aus Asien waren zu allen Zeiten hier vertreten.
Es war Abend. Noch breitete sich das Licht des Tages aus, auch wenn sich die Sonne schon klamm-heimlich verkrochen hatte, so gut wie nicht mehr zu sehen war und im Westen ihre Flammenspeere über den Himmel schickte, als wollte sie der einbrechenden Dämmerung erklären, dass sie bald wieder erscheinen würde.
Sven Nolte kannte den Weg zur Burg. Es gab dort auch Parkgelegenheiten, doch dort wollte er nicht hin. Er hatte sich eine besondere Überraschung ausgedacht, denn es gab dort einen Ort, wo sie bestimmt allein waren und nicht von anderen Romantikern gestört wurden. Außerdem hatten sie von diesem exponierten Ort aus einen hervorragenden Blick ins Tal und über den Strom hinweg, der an beiden Seiten von Weinbergen regelrecht eingekesselt wurde.
In den Kurven hielt sich Sharon Ford stets am Haltegriff fest. »Werden wir uns auf die Burgmauer setzen und ins Tal schauen?«
»Nein.«
»Schaaade...«
»Warte es ab. Ich kenne einen viel besseren Platz.«
»Ah, dann bist du den Weg schon öfter gefahren.«
Svens sommersprossiges Jungengesicht mit den hellblauen Augen verzog sich zu einem Lächeln. »Das kann man wohl sagen.«
»Allein?«, fragte Sharon gedehnt.
»Nicht immer.«
»Das hatte ich mir gedacht.«
»Ich habe manchmal meine Eltern mitgenommen.«
»Lügner, Lügner...«, sie verschluckte sich und fing an zu lachen. Dann sagte sie nichts mehr, schaute nur aus dem Fenster und genoss die Aussicht, die ihr geboten wurde, wenn sich Lücken im Baumbestand auftaten.
Zweimal waren ihnen Wanderer entgegengekommen. Jetzt sahen sie keinen Menschen mehr. Die Burg rückte nach jeder Serpentine näher und näher, und sie erhielt jetzt, wo das Licht des Tages entschwand, ein leicht bedrohliches Aussehen, denn auch das freundliche Grün der Bäume war nicht mehr so zu sehen wie im hellen Sonnenlicht.
Nach der nächsten Kurve ging Sven vom Gas. Er fuhr so langsam, dass sich Sharon wunderte.
»He, was ist los? Kennst du dich nicht mehr aus?«
»Keine Sorge. Ich muss nur genau schauen. Im Winter war ich zum letzten Mal hier. Jetzt ist alles wieder zugewachsen. Vor einem halben Jahr war es noch offen.«
»Was macht man denn hier oben bei der Kälte?«
»Eine Wanderung im Schnee. War toll.«
»Naja, ich habe es lieber warm.«
Sven Nolte lachte auf und riss das Lenkrad nach rechts. Er hörte noch den leisen Protestruf, dann schlugen Zweige gegen die Frontscheibe und das Dach, und einen Moment später war er sehr zufrieden, denn er hatte den schmalen Weg gefunden, der durch einen dicht wachsenden Niederwald führte.
»He, darfst du hier überhaupt herfahren? Ihr Deutschen habt doch immer so Verbote und so weiter.«
»Klar, und so weiter. Aber einen Und-so-weiter sehe ich nicht. Wo kein Kläger ist, da gibt es auch keinen Richter.«
»Gutes Sprichwort.«
»Finde ich auch.«
Eine weite Strecke mussten sie nicht fahren. Und auch der Niederwald lichtete sich, aber der Blick ins Rheintal gelang ihnen noch nicht. Wenig später rollten sie auf einem von dichtem Gras bewachsenen Stück Erde hinweg, das frei von Bäumen war, aber einen kleinen Hügel oder eine kleine Erhebung mit flacher Kuppe hatte. Die Flanke des Hügels wurde vom Licht der Scheinwerfer getroffen und erhielt einen gespenstischen Glanz, der verschwand, als Sven das Licht löschte.
»Wir sind da!«
»Toll«, sagte Sharon. »Meinst du wirklich diese kleine Anhöhe?«
»Klar.«
Sie schnallte sich los. »Warum gerade hier?«
»Kannst du dir das nicht denken? Es ist wegen der Aussicht. Du wirst begeistert sein.«
»Am Tage. Aber so...«
»Lass dich überraschen.«
»Okay, es ist deine Heimat.«
»Auf die ich auch stolz bin«, erklärte Sven. »Und das ist nicht nationalistisch gedacht.«
»Das kannst du auch sein, wenn du daran denkst, wie viele Millionen Besucher den Rhein schon besichtigt haben.«
Sie stiegen aus. Während Sharon Ford am Corsa stehen blieb und sich dabei auf der Stelle drehte, trat Sven Nolte zur Heckklappe und ließ sie hochschwingen.
Er hatte die Zeit vor dem Treffen genutzt und einen Picknickkorb gefüllt. Was darin war, konnte Sharon nicht genau erkennen, aber sie bekam große Augen, als sie das leise Klirren hörte, als Flaschen gegeneinander stießen.
»He, wird das eine Party?«
»So ungefähr.«
»Und wie wollen wir zurückkommen?«
»Weiß ich nicht.«
»Zu Fuß, wie?«
»Zur Not
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