Der Vergessene
Fall wollte sie jetzt kneifen. Der Mann im langen Mantel vor dem Glas war einfach zu faszinierend, und sie lächelte ihm jetzt zu. Den Weg zur Tür schlug sie nicht ein. Sie ging auf die Stelle der Scheibe zu, hinter der sich seine hochgewachsene Gestalt abmalte. Er war ein Mann, ein richtiger Mann, ein Kerl, so wild und faszinierend.
Jetzt lächelte er. Dabei zog er nur die Lippen in die Breite, ohne sie zu öffnen. Dazwischen allerdings bewegte sich etwas. Es musste die Zunge sein, die gegen die Innenseiten der Lippen stieß und wanderte. Sie vollführte ihre Drehungen. Sie tanzte im noch geschlossenen Mund. Für die Frau war es wie eine Lockung.
Der nächste Schritt - der letzte! Sie kam nicht mehr weiter. Die Scheibe stoppte sie. Beinahe wäre sie mit dem Gesicht dagegen geprallt.
Im letzten Augenblick zog sie den Kopf zurück.
Der Fremde nickte ihr zu. Sein Lächeln blieb. Carol ahnte, dass sein Erscheinen etwas mit ihrem Verschwinden sollen zu tun hatte. So etwas spürte sie einfach, doch jetzt, wo sie ihn gesehen hatte, würde sie erst recht nicht gehen. Sie musste diesen Mann näher kennen lernen und ihn so erleben, wie sie es sich schon vorgestellt hatte. Nur die Scheibe trennte sie. Carol atmete schwer. Sie war nicht in der Lage, ruhig zu sein. Auf der Stelle stehend bewegte sie sich hin und her, und dies zumeist nur mit dem Mittelteil des Körpers. Sie wollte dem Fremden zeigen, was sie von ihm hielt. Es drängte sie, zur Tür zu gehen und sie zu öffnen, aber der andere tat etwas, das ihren Plan zunächst zerstörte.
Er öffnete den Mund. Eine Zunge erschien. Hell und rosig zugleich.
Sie bewegte sich auf die Scheibe zu, fand auch Kontakt und wurde nicht zurückgezogen. Die Zunge leckte mit ihrer Spitze über die außen schmutzige Scheibe hinweg, was der Frau dahinter nichts ausmachte.
Sie dachte nur an den Kerl und nicht an den Schmutz auf der Scheibe.
Er malte mit der Zunge Figuren nach. Kreise zumeist, die dann übergingen ins Ovale. Heftiges Atmen strömte gegen das Glas. Auch Carol war drauf und dran, ihre Zunge zu zeigen. Sie kam sich nicht einmal dumm dabei vor. Beide Hände hatte sie gegen das Glas gelegt und fest angedrückt, als wollte sie das Material zerdrücken.
Er zog die Zunge wieder zurück. Dann küsste er die Scheibe von außen. Er presste die halb geöffneten Lippen dagegen, und es gab für Carol kein Halten mehr. Ihr war es egal, was Amos dachte, der andere hatte sie in seinen Bann geschlagen. So küsste sie ihn zurück und stellte sich vor, dass es nicht das Glas war, sondern seine Lippen. Sie schloss sogar die Augen. Die Aura des anderen wurde auch durch den Widerstand kaum aufgehalten. Wieder spürte sie das ungewöhnliche Ausmaß an Erregung und konnte nicht ruhig auf der Stelle bleiben.
Amos Atkins saß noch immer auf seinem Platz. Er hatte alles beobachtet. Auch wenn ihm Carol den Rücken zudrehte, wusste er, was da abgelaufen war und noch immer ablief. Amos war kein normaler Mensch. Er wusste von der Ausstrahlung der Engel, die auch ihn erfasst hatte. Er musste damit leben, existieren. Er kannte seine Vergangenheit, aber er kannte auch den Einfluss auf Frauen. Er war etwas Besonderes.
Die alte Kraft der Engel steckte in ihm, und sie war in Kamuel noch stärker vertreten.
Amos wusste, dass er keine Chance gegen Kamuel hatte. Die Ereignisse hatten ihn zudem überrollt. Er hätte seine Freundin tatsächlich aus der Wohnung entfernen sollen, dann wäre dies alles nicht passiert, was jetzt nicht mehr zu stoppen war. Sie würde nicht mehr gehen wollen. Sie steckte einfach zu tief im Bann dieser Person.
Der Vergessene hatte sich mit aller Macht wieder zurückgemeldet und blieb nicht mehr dort stehen, wo er gelandet war. Er ging einen Schritt zurück.
Das hatte auch Carol Maxwell mitbekommen. Sie war darüber nicht erfreut, denn sie seufzte auf wie jemand, der eine große Enttäuschung erleidet.
Kamuel ließ sie stehen, zog sich jedoch nicht zurück. Parallel zum Fenster ging er weiter. Es war windiger geworden, und die Mantelschöße wurden angehoben. Sein neues Ziel war die Tür. Amos hatte sie verschlossen. Sogar den im Griff steckenden Schlüssel herumgedreht. Er dachte auch nicht daran, die Tür wieder zu öffnen. Im Gegensatz zu Carol.
»Willst du ihn nicht hereinlassen, Amos?« fragte sie mit zittriger Stimme. »Du kennst ihn doch - oder?«
»Ja, ich kenne ihn.«
»Dann bitte…«
»Nein!« entschied er. »Nein, auf keinen Fall. Alles was recht ist, er muss
Weitere Kostenlose Bücher