Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Ich bin Gauvogt Gasakan Amsler. Und ich muss wissen, was in meinem Amtsbezirk vor sich geht. Also gib mir den Brief. Oder ich lasse ihn dir nehmen.«
Da hielt es Mellow nicht länger aus. Er trat neben Bholobhorg hin und schob ihn ein Stück weit zur Seite. Er tippte lässig an seinen Hut.
»Und ich«, sagte er, »ich bin der außerordentliche Helvogt Mellow Rohrsang. Und ich sage dir, du übertrittst gerade ganz gewaltig deine Befugnisse, Herr Gauvogt. Du hast gehört, für wen der Brief bestimmt ist. Dein Name steht nicht darauf. Der Brief geht dich also überhaupt nichts an!«
»Ach, ist das so?«, zischte Gasakan und wandte seine zusammengekniffenen Augen Mellow zu, als bemerke er erst jetzt dessen Anwesenheit. »Und was willst du sein? Ein Helvogt? Nur weil du dir ein blaues Band angenäht hast? Lächerlich! Und du wagst es, mir zu widersprechen? Weißt du nicht, dass es seit über hundert Jahren keinen Helvogt mehr gegeben hat? Und ausgerechnet du willst einer sein? Bildest du dir wirklich ein, mir damit kommen zu können? Abermals lächerlich! Wenn hier einer seine Befugnisse überschreitet, dann wohl der, der überhaupt keine hat. Du machst dich äußerst verdächtig, Freundchen. Das verrät schon die schlechte Gesellschaft, mit der du dich offenbar herumtreibst. Menschen sehen wir hier nicht so gern. Ihnen war früher nie zu trauen. Und jetzt noch viel weniger. Kraft meiner Amtsgewalt nehme ich dich hiermit vorläufig in Gewahrsam! Gib mir deinen Dolch! Wer weiß, was du noch im Schilde führst, Bürschchen!«
»Bitte – was?« Mellow sah sich ungläubig zu Finn um.
»Derlei Amtsanmaßung dulde ich nicht, verstanden!«, brüllte ihn Gasakan an. »Hochstapelei ist ein schweres Vergehen! Wer weiß, was du dir sonst noch alles hast zuschulden kommen lassen. Taram, Geldo – nehmt ihn fest! Bindet seine Hände! Er scheint ein gefährlicher Jemand zu sein! Und runter mit seinem Witz von einem Hut! Vorwärts!«
Die beiden Aufgerufenen drückten ihren Kameraden die Zügel in die Hand und bauten sich links wie rechts von Mellow auf. Der lachte nur dem schwarzhaarigen Geldo wie dem goldblonden Taram ins Gesicht und zischte seinerseits: »Wagt es nicht!«
Rede und Widerrede waren so rasch aufeinandergefolgt, dass Finn kaum Zeit fand, eine warnende Bewegung nach hinten zu Circendil zu machen.
Mellows Drohung fruchtete nichts; die beiden Landhüter ergriffen hüben wie drüben seine Oberarme.
Im nächsten Moment trat Mellow ruckartig einen Schritt zurück, griff seinerseits den einen wie den anderen beim Kragen und zog sie zu sich hin – und damit aufeinander zu. Mit einem hässlichen, dumpfen Geräusch stießen ihre Köpfe infolge des unvermuteten Schwungs heftig gegeneinander. Beider Hüte flatterten zu Boden. Die beiden Vahits prallten voneinander zurück. Jener Blonde, der Taram genannt worden war, stolperte über Finns Füße und stürzte zu Boden.
Im Nu hatte er sich wieder aufgerappelt und flog, die Fäuste vorgestreckt, auf den vermeintlichen neuen Gegner zu. Der dumpfe Doppelschlag beider Fäuste gegen Finns Brust trieb ihm alle Luft aus den Lungen.
Er geriet aus dem Gleichgewicht, stand schwankend auf einem Bein und ruderte einen Augenblick hilflos mit den Armen. Dann kippte er zur Seite. Doch Taram war aufgrund der schnellen Bewegung auch aus dem Gleichgewicht geraten, stolperte und schlug lang hin und ungebremst mit dem Kopf auf den Boden. Der zweite Kopftreffer war zu viel, Taram verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.
Finn holte keuchend Atem.
Inzwischen hatte sich Mellow dem Zugriff von Tarams dunkelhaarigem Kameraden erwehren müssen. Irgendwie hatte er sich dabei eines der Landhüterstäbe bemächtigen können.
Eben, als Finn aufschaute und aus dem Augenwinkel mitbekam, wie Circendil, den kläffenden Inku an seiner Seite, in langen Sätzen herbeieilte, schwang Mellow den Stab und fegte Geldo mit dem Schaft von den Beinen. Im nächsten Moment stieß er ihm wie ein Jäger den Fuß auf die Brust und drückte ihn zurück in den Staub.
Die Spitze des Stabes schwebte drohend vor der Kehle des ganz und gar Überraschten, dessen Gesicht kalkweiß geworden war.
Mellow sagte nur ein Wort: »Genug!«
Dann nahm er den Stiefel von dem am Boden Liegenden und warf ihm den Stab vor die Füße.
Er hob seinen eigenen Hut wieder auf, klopfte den Staub heraus, strich das blaue Band daran glatt, setzte ihn auf und maß den bewegungslos verharrenden Gasakan Amsler mit einem langen, schwer
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