Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Pfad erreichte, der um das Taubergrundstück herum zum Beukelfelsen führte, stand er wieder eine Weile still. Diesmal lauschte er vergeblich. Der Wind fuhr allzu laut in den Wipfel und zischelte in den Gräsern. Finn tastete nach dem Griff seines Schwertes. Er wagte es noch nicht, Maúrgin aus der Scheide zu ziehen, da selbst ein leises Klirren ihn verraten würde. So schlich er nur, einen Fuß vor den anderen setzend und dem Pfade folgend. Er kam bis an den Punkt, an dem die Steigbrücke über den sich teilenden Bach aufstieg.
Finn nahm an, das Kapuzengesicht sei am Beukelfelsen vorbei und in dessen Schatten weiter geflohen, der Kante des Sturzes nach Norden folgend. Doch die Annahme erwies sich als irrig:Weder am linken noch am rechten Bachufer fand Finn Spuren oder niedergetretenes Gras. Aber auf den Trittstufen der Holztreppe sah und fühlte er schlammige Umrisse von Stiefelabdrücken. Die Spuren führten eindeutig hinauf und nicht wieder hinunter. Folglich war das Kapuzengesicht über die Brücke gegangen und befand sich immer noch dort, irgendwo auf der hohen Insel zwischen den beiden Bächen.
Finn stieg die Stufen hinauf und folgte gleichfalls dem Weg von den Ulmen fort über die schräg ansteigende Fläche. Gelbes Mondlicht, von jagenden Wolkenschatten durchbrochen, umgab ihn; überdeutlich wurde ihm bewusst, dass er jedem verborgenen Auge schutzlos ausgeliefert war. Aber niemand stürzte sich auf ihn, kein Pfeil schwirrte, nichts bewegte sich, vom Winde abgesehen, der um die Felsen wimmerte.
Vor und über ihm erhob sich jetzt der doppelte Turm des Beukels, dessen rechte, dem sicheren Land zugewandte Seite hell im Mondlicht glänzte. Der Pfad selbst tauchte bald hinter der Steigbrücke ins Dunkel des pechschwarzen Schattens der Klippe ein und kletterte dann über die jetzt unsichtbaren Kehren und Stufen den kleineren Felsenturm hinauf. Zwischen der Stelle, wo Finn sich befand, und dem Beginn der ersten Kehre wuchsen keine Sträucher, nicht einmal mehr Gras; nackt und kahl, von moosigen Flächen abgesehen, war der rötliche Fels zu den Füßen des Beukels, von Wind und Wetter abgeschliffen und teilweise glatt wie Glas, wie Finn sich von seinem nachmittäglichen Besuch wohl erinnerte.
Nichts bewegte sich auf der Felseninsel unterhalb des Turms. Es gab keinen Ort, keinen Busch oder Baum, wo sich der Kapuzenträger hätte verstecken können, außer in den Schatten des sich hinaufwindenden Pfades. Aber es war ein nur dürftiges Versteck und zudem eines, das sich als hinfällig erwies, sobald jemand ihm folgte. Welchen Grund also sollte es für den unbekannten Fensterlauscher geben, hinaufzusteigen und oben über den Damm zu gehen, wo jede Flucht ein Ende hatte?
Dennoch oder gerade weil er das bedachte, sah Finn hinauf, und da gewahrte er eine lauernd vorgebeugte Gestalt, die sich wiederum sofort zurückzog.
Also doch, dachte Finn. Er ist da. Aber was will er dort oben?
Jetzt zog er Maúrgin, da er keine Entdeckung mehr fürchten musste, denn der andere hatte ihn zweifelsfrei gesehen. Überlaut erschien ihm das leise Klirren, das er dabei verursachte. Fast schwarz, glänzend wie heißes Pech, schimmerte der Karbeol unter seiner Faust. Abermals dankte Finn im Stillen Glimfáin für dieses Geschenk. Seine Zuversicht wuchs ein wenig; nicht so viel, um ihn leichtsinnig werden zu lassen, aber genug, um weiter vorzugehen. Schritt für Schritt tastete er sich den schmalen Pfad hinauf, wohl wissend, dass ihn der andere erwartete. Immer wieder zogen Wolken vor dem Antlitz des Mondes vorbei, tauchten den Felspfad mal in fahles Licht, dann wieder in absonderliche Schatten. Als er die letzte Kehre erreichte, sah er die Gestalt zwischen den beidseitigen Geländern auf dem Dammstück vor sich stehen, vielleicht sieben oder acht Klafter entfernt. Sie wich zurück, als sie Finn erblickte. »Bleib stehen!«, rief Finn. »Du kannst nicht mehr weiter. Dein Weg ist hier zu Ende. Bleib stehen.«
Ein Keuchen war die einzige Antwort, die er erhielt.
Der Größe nach war es ein Vahit. Der Form nach mochte es alles Mögliche sein. Ein Mantel umwehte breite Schultern, so viel konnte Finn erkennen. Eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze zeigte kaum mehr als einen breiten Mund in einem bleichen, teigigen Gesicht.
Die Gestalt hob einen Arm, als wolle sie winken.
Da schob sich eine dichte Wolke am Mond vorüber. Es wurde finster und gleich darauf wieder heller. Hinter der Gestalt fuhr der Wind in den Buchsbaum und rüttelte an seinen
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