Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
angesichts der hochaufragenden Wand wie ein reines Wunder. Obendrein hatte er sich offenbar nichts gebrochen. Nur sein Kopf schmerzte stechend, bei jeder Bewegung und auch sonst; und als er seine Stirn betastete, blieben seine Finger rot von Blut.
»Autsch«, sagte er. »Er muss einen Stein oder etwas nach mir geworfen haben. Ich rief ihm eine Warnung zu. Ich dachte, er hätte mich verstanden und käme zurück. Er winkte; aber es war nicht das, wonach es aussah, nehme ich an, sondern ein gut gezielter Wurf.«
»Er, er er!«, rief Wilhag aus. »Jetzt sag es schon endlich: WER hat nach dir geworfen, du liebe Güte?«
»Bholobhorg«, antwortete Finn und rieb sich seinen Nacken. »Ehe der Stein mich traf, sah ich sein Gesicht im hellen Mondlicht – nicht länger als ein Blitz andauert, meine ich, aber deutlich genug, um sicher zu sein. Er war es, der uns am Fenster belauscht hat.«
»Bhobho?«, fragte Mellow. »Er hat einen Stein geworfen? Hat er dir aufgelauert?«
»Niemand sonst war da. Obwohl ich glaubte, Criargflügel zuhören. Aber da fiel ich schon, und ich bin nicht sicher. Und aufgelauert? Nein. Dazu war keine Zeit. Zum Verstecken, meine ich. Ich sah ihn oben, als ich am Felsen ankam. Ich folgte ihm. Dort vorn, fast am Ende des Dammes, wartete er. Den Stein muss er unterwegs aufgelesen haben. Er hat mich völlig überrascht.«
»Flügelschlag und Wurfgeschick«, hielt Circendil fest. »Das zweite traue ich Bhobho ohne Weiteres zu, aber die Flügel bringe ich nicht mit ihm zusammen. Es sei denn, er drückt seine Ohren nicht länger auf eigene Rechnung an fremde Wände, sondern ist zum Verräter geworden und spitzelt für jemand anderen.«
»Tut er das nicht sowieso?«, fragte Finn und hielt still, während ihm der Davenamönch einen notdürftigen Verband anlegte. »Er ist Gesslos Mann, wie wir wissen; und obendrein hat ihn irgendwie Gasakan Amsler in die Pflicht genommen. Gestern, als wir noch bei den Findlingen waren. Er hat ihn ›mit einer Arbeit‹ bedacht. Großmutter war zufällig dabei, hörte es und erzählte mir davon. Jetzt wissen wir, welche Art Arbeit er zu vergeben hatte.«
»Oh, es mag sein, dass Bhobho neuerdings auch für Gasakan spitzelt. Es würde mich nicht wundern. Aber weder er noch Gesslo setzen Flügel ein.« Der Mönch riss einen Spalt in das Tuch und verknotete die Enden miteinander.
Finn nickte dankbar. »Falls es nicht ohnehin der Wind war, den ich hörte.« Er ergriff Circendils Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen.
»Wo willst du hin?«, fragte Wilhag, als er sah, dass sein Vetter sich anschickte, den Pfad abermals zu ersteigen. Wilhag war schon ein oder zwei Schritte mit seiner Fackel vorausgegangen – in die andere Richtung, dem Tauberhaus entgegen, wie er dachte. Verdutzt drehte er sich um.
»Mein Schwert lieg noch da oben – irgendwo«, erklärte Finn.
»Auf keinen Fall gehst du schon wieder ohne Fackel!« Wilhag stapfte zurück, drängte sich an Finn vorbei und schritt den Pfad voran. »Los. Ich komme mit.«
»Wir alle kommen mit«, sagte Circendil. »Da wir Bhobho bisher nicht begegnet sind, muss er noch oben sein. Er wird uns ein paar Fragen beantworten müssen.«
Finn begann schon nach wenigen Schritten langsamer zu werden.
Seine Knie brannten, die Muskeln seiner Beine zitterten. Er kämpfte sich klaglos hinauf, obwohl ihm eher nach Wimmern zumute gewesen wäre. Einerseits war er froh darüber, sich nichts gebrochen zu haben; wer wäre das nicht. Andererseits konnte er auf sein sprichwörtliches Glück im Unglück allmählich verzichten. Jeder Tritt, jeder Schritt schickte Schmerzwellen durch seinen Körper. Binnen zwei Tagen war er gleich zwei Mal aus großer Höhe gefallen, zuerst von, nein durch einen hohen Baum, nun von einem mächtigen Stein herab. Als er endlich als Letzter an der obersten Kehre und am Beginn des Dammstücks ankam, rang er nach Atem.
Circendil bedeutete den Vahits, zu warten; er erbat sich von Wilhag dessen Fackel und zog sein Schwert; dann erklomm er als Erster den schmalen Grat und betrat den Buchsbaumfelsen mit seiner Bank. Nacheinander folgten Mellow, Wilhag und, langsamer, Finn.
Als sie alle drüben standen, machten sie enttäuschte und zugleich ratlose Gesichter.
Wilhag nahm die Fackel wieder an sich, leuchtete einmal um den Baum herum, spähte unter die Bank, bog sogar die Äste des Sadestrauchs auseinander, aber von Bholobhorg fehlte jede Spur. Was sie sahen oder vielmehr nicht sahen, war ihnen ein
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