Der Verrat
musste.
Diesmal blieb sie nicht stehen, sondern setzte sich auf den Rand der aus gefaltetem Stahl gebauten Skulptur, viermal so groà wie sie selbst, deren scharfe Kanten zu einer starren Spitze zusammenliefen. Sie sah äuÃerst modern aus, doch auf den stählernen Falten standen Rätsel aus einem tausend Jahre alten Buch.
Sie schloss dieAugen und lehnte dieWange an den abendkühlen Stahl.
»Mae«, flüsterteAlan. Sein Gesicht war ganz dicht vor ihrem.
Er stützte sich mit einer Hand über ihrem Kopf an der Skulptur ab. SeineAugen waren auf gleicher Höhe wie ihre, und hinter ihm schien der Himmel, an dem sich die Farben des Sonnenuntergangs in tiefem, dämmrigem Blau verloren, ebenso dunkel zu werden.
»Ich habe gehört, du und Seb, ihr kommt nicht mehr ganz so gut miteinander aus.«
»Kann man so sagen.« Ihr trockenes Flüstern war kaum zu hören.
»Es tut mir leid, dass du traurig bist«, sagteAlan. »Aber ich bin froh, dass er seine Chance vertan hat. Und ich muss dir etwas sagen.«
Sie hatte plötzlich den kindischenWunsch, dieAugen zu schlieÃen, als wolle sie ihn damit verschwinden lassen, aber sie schaffte es nicht, wegzusehen.
»Nicht,Alan«, sagte sie schwach.
»Nach demTod meinesVaters habe ich überall nach jemandem gesucht, der mich liebt. Ich habe im Bus gesessen und Leute beobachtet, um herauszufinden, ob sie nett aussahen. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, mich anzulächeln. Ich hatte hundert verschiedeneTräume über hundert verschiedene Leute, die mich liebten.«Alan sprach leise, aber ohne zu zögern. Ganz sanft strich er ihr das Haar hinters Ohr. »Und von allen Mädchen, die ich je gesehen habe, habe ich am meisten von dir geträumt.«
Und während sie ankämpfte gegen den dummen, unvernünftigen Impuls zu weinen, neigte er sich vor und küsste sie. Sein Mund war warm und sie erwiderte den Kuss unwillkürlich.
Es war kein sehr intensiver Kuss, doch sie hielt daran fest und folgte bebend seinerWärme.
»Mae, würdest du mit mir ausgehen?«, fragteAlan schlieÃlich. »Du musst es mir nicht gleich sagen«, fuhr er schnell und überhastet fort. »Aber kannst du es mir am Samstag sagen?«
Am Freitagabend war der Jahrmarkt der Kobolde.
»Denn«, meinte er und sein Mund verzog sich ein wenig süÃlich, traurig und gleichzeitig wehmütig, »wenn du recht hast und ich am Freitag sterbe ⦠Ich weiÃ, dass ich das Richtige tue, aber ich werdeAngst haben. Es würde mir besser gehen, wenn ich glauben kann, dass du am Samstag vielleicht Ja sagst.«
Es war so schrecklich verführerisch, begehrt zu werden. Mae wusste nicht, was sie am Samstag sagen würde. Sie wusste nur, dass sie am Freitag dafür sorgen würde, dass keiner von ihnen starb.
»Ich hätte nicht gedacht, dassAlan das durchzieht«, sagte Jamie am nächsten Morgen.
Er saà auf derTreppe vor ihrem Haus, und Mae, die Hände fest zwischen die Knie geklemmt, hatte ihm gerade erzählt, wie ihr Ãberzeugungsversuch beiAlan gelaufen war und dass er sie um ein Date gebeten hatte. Jamie fiel fast von derTreppe, weil er seine Nase tief in eine groÃe rote Rose am Spalier steckte. Eine Biene saà darin, und wenn er nicht aufpasste, würde sie ihn noch stechen.
»Was Nick getan hat, war schrecklich«, fuhr Jamie bekümmert fort. »Aber â¦Alan sollte auf seiner Seite sein. Ich dachte, das würde er auch, egal, was passiert.«
Mae fragte sich, wann sich Jamies Loyalität von einem Bruder zum anderen verschoben hatte. Sie konnte sich daran erinnern, dass Jamie früher, egal, was passierte, aufAlans Seite gewesen wäre.
Nick nahmAlan immer wieder etwas weg, ohne es zu wollen.
»Vielleicht ist er es einfach leid, immer auf Nicks Seite zu sein«, sagte Mae. »Immerhin beherrscht es sein ganzes Leben.«
Jamie studierte das Innere der Rose. »Ich weiÃ, dass du mir nicht glaubst, aber wir können Gerald vertrauen.« Er stolperte ein klein wenig über den Namen. »Er hat mir von seinen Plänen erzählt. Er willAlan oder Nick nichts tun.Aber ⦠ich wünschte,Alan würde es trotzdem nicht tun. Nick wird ⦠er wird so wütend sein.«
Mae hatte das kleine Detail ausgelassen, dass sie gegen die Magier eineArmee vom Jahrmarkt aufgestellt hatte. Jamie würde die Idee, Gerald zu vernichten, wahrscheinlich nicht besonders gut
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