Der verwaiste Thron 02 - Verrat
gefährlich.
Ich brauche eine Unterkunft , dachte er, einen Ort, an dem ich meine Kleider trocknen, etwas Warmes essen und schlafen kann.
Er sah hinauf in den Himmel. Er war grau. Die Wolken hingen so tief, dass manche Baumwipfel in ihnen verschwanden. Ohne Sonne fiel die Orientierung schwer, aber Jonan war sich sicher, dass er nach Süden ritt, dorthin, wo er eine größere Stadt vermutete. Wenn Ana immer noch nach Westfall wollte, musste sie ein Fährschiff finden, und die gab es nur in Städten.
Vor Jonan teilte sich der Weg. Der schmalere führte nach Südosten, der breitere nach Südwesten. Jonan zögerte einen Moment, dann lenkte er sein Pferd auf den südwestlichen Weg. Der brachte ihn zwar näher an die Handelsstraße heran, doch damit auch näher an die nächste Stadt. Er hatte durch unwegsames Gelände und Wege, die im Nichts endeten, viel Zeit verloren. Er glaubte zu spüren, wie die Entfernung zwischen ihm und Ana größer wurde, als wären sie Treibholz, das in unterschiedliche Flussarme gezogen wurde, machtlos gegen die Kräfte, die auf sie einwirkten.
Jonan schüttelte den Kopf. Die Müdigkeit in ihm stieg auf wie ein dunkler Vogel, doch einen Moment später ließ sie sich wieder auf seinen Lidern nieder. Es hatte keinen Sinn weiterzureiten. Er brauchte Schlaf.
Er warf einen Blick auf die Bäume. Die meisten waren jung, kaum drei Manneslängen hoch mit moosbedeckten Ästen, die das Gewicht eines Menschen nicht tragen würden. Anscheinend war der Weg einmal eine Straße gewesen, die sich der Wald allmählich zurückeroberte.
Ein Baum, der unmittelbar am Wegesrand stand, fiel Jonan auf. Moos hatte seinen Stamm grün gefärbt. Nur ein rechteckiger Ausschnitt auf Augenhöhe war frei geblieben, Jonan ritt näher heran. Jemand hatte das Moos abgekratzt; er sah die Spuren eines Messers in der Rinde. Erst als er noch näher kam, bemerkte er, dass die Anordnung der Kratzer kein Zufall war. Die wenigen, tief in die Rinde eingeritzten Linien stellten etwas dar: einen Krug und darunter einen Pfeil, der nach Süden wies, dem Weg folgend. Die Kratzer sahen alt aus, aber das Moos wurde offenbar regelmäßig entfernt, sonst hätte es die Rinde längst überwuchert.
Ein Gasthaus , dachte Jonan. Er zügelte sein Pferd. Niemand baute ein Gasthaus mitten im Wald. Entweder war er der Handelsstraße näher, als er gedacht hatte, oder in der Nähe lag ein Dorf. Beides bedeutete Gefahr.
Und Trockenheit , fügte er in Gedanken hinzu. Trotzdem wendete er sein Pferd. Im Orden hatte man ihn gelehrt, dass sich nur ein Narr einer Gefahr, die er umgehen konnte, stellte.
Jonans Blick fiel wieder auf den eingeritzten Krug. Regenwasser lief in seinen Kragen und den Rücken hinunter. Er hustete, dann wendete er das Pferd erneut und ritt nach Süden.
Meine Schwäche ist die Gefahr , dachte er. Ich kann sie nicht umgehen.
Er war sich nicht sicher, ob die Meister des Ordens ihm zugestimmt hätten.
Nur wenig später sah er hellen Rauch hinter einer Biegung aufsteigen. Jonan verließ den Weg, stieg vom Pferd und führte es durch das Unterholz. Was auch immer sich hinter der Biegung befand – er wollte es sehen, bevor es ihn sah.
Der Regen schluckte das Geräusch seiner Stiefel und der Pferdehufe. Ein Haus tauchte zwischen den Bäumen auf. Es bestand aus schweren, dunklen Balken und war größer, als Jonan erwartet hatte. Rauch stieg aus einem gemauerten Kamin. Die Eingangstür stand offen. Ein Stall grenzte an das Haus. Unter seinem Dach gab es eine Pferdetränke aus einem ausgehöhlten Baumstamm und einige in den Boden gerammte Pfähle mit Eisenringen. Pferde sah Jonan nicht.
Vorsichtig trat er aus dem Wald auf den Weg. Hinter dem Gasthaus, auf einer gerodeten Lichtung, standen einige Hütten. Sie wirkten verlassen. Unkraut wucherte in den Gemüsegärten, die sie umgaben, und Bäume und Sträucher wuchsen in den Ruinen schwarz verbrannter Hütten. Am Rande der Lichtung bemerkte Jonan einen Tempel. Das Dach war eingestürzt, die Balken geschwärzt, und Tauben nisteten in den Fenstern. Jonan hörte ihr Gurren über den Regen hinweg.
Kein Mensch war zu sehen, noch nicht einmal die Spuren eines Menschen. Nur der Rauch verriet, dass Jonan nicht allein war.
Er überquerte den Weg. Etwas bewegte sich hinter der Eingangstür. Jonan blieb stehen, bemerkte auf einmal, wie frei er stand. Es gab keine Deckung außer seinem Pferd. Zu beiden Seiten lag der Wald mehr als drei Schritte entfernt, zu weit, um einem Pfeil oder Speer zu
Weitere Kostenlose Bücher